Stufen der Selbstvergewisserung
Wer bin ich?
Ich hätte nicht gedacht, dass ich mir jemals diese Frage stellen werde. Niemals habe ich daran gezweifelt, zu wissen, wer ich bin. Die Tatsache, dass ich als Person mit einer ganz bestimmten Identität existiere, ist für mich schließlich unumstößlich. Wie sollte ich auch daran zweifeln, überzeugt mich doch der Augenschein, ein Blick in den Spiegel und auf meinen Reisepass, sowie der Umstand, dass ich denke – mich denke, und mir dessen bewusst bin, stets von der Gewissheit, ein singuläres Subjekt zu sein.
Die Evidenz dieser Gewissheit ist in meinem Bewusstsein derart stark verankert, dass die Möglichkeit einer abweichenden Deutung niemals zuvor in Betracht kam.
Die plötzliche Erkenntnis, nicht meine Existenz per se könne Anlass zu Skepsis geben – sie ist hinlänglich bekannt und gesichert – sondern meine Identität als einmaliges und unverwechselbares Individuum, sorgte also zunächst für Irritation und ungläubiges Staunen.
Schockiert von der Bedeutung dieser Frage und den Emotionen, die sie in mir hervorrief, begann ich nachzudenken, was sie ausgelöst haben mochte.
Natürlich hatte es in der Vergangenheit immer wieder Situationen gegeben, die für Zweifel an der Sinnhaftigkeit mancher Aktivitäten sorgen konnten, durchaus auch solche, die mit den eigenen Ansprüchen an meine Persönlichkeit hinsichtlich Geradlinigkeit, Charakterstärke und, ja, auch Ehrlichkeit nicht immer in Einklang zu bringen waren, doch niemals stand ICH, bei aller Fragwürdigkeit meines Handelns, als eigenständiges Individuum mit eindeutiger Identität zur Disposition. Allen Verirrungen meiner Integrität zum Trotz, gab es niemals Anlass am ureigensten Wesen meiner selbst zu zweifeln.
Ich meinte, immer zu wissen, wer ich bin.
Die Frage an sich ist harmlos, zweifellos geeignet, sich seiner selbst zu vergewissern, Standpunkte zu klären, seine Ziele vielleicht erneut zu kalibrieren, Bilanz zu ziehen, sich innerhalb seines ganz persönlichen Universums zu orientieren und allenfalls neu auszurichten, und damit durchaus nützlich.
WER ich bin, ist mir klar, Werdegang, Beruf, Lebensumstände sind bekannt, weitgehend unspektakulär und keiner besonderen Aufmerksamkeit wert. Die Frage zielt offensichtlich auf den nicht sichtbaren Anteil meiner Persönlichkeit, den inneren Wesenskern ab, der möglicherweise vom Äußeren verdeckt, vielleicht sogar absichtlich verborgen gehalten, aber gerade deshalb von Interesse ist, verrät die ehrliche Antwort doch mehr als das äußere Erscheinungsbild mitzuteilen hat.
Erstaunlich, was sich dem kritisch prüfenden, zugleich auch besorgten Blick offenbart, sobald er sich nach innen richtet. Was tun, wenn Unerwartetes, Unerfreuliches oder gar Schreckliches sichtbar wird, das mit der Person, die man nach außen mehr oder weniger selbstbewusst präsentiert und an deren Reputation man sich gewöhnt hat, nicht zur Deckung zu bringen ist?
Verpflichten mich die selbstauferlegten moralischen Standards zur Selbstentblößung und Selbstbezichtigung, nötigen sie mir das Bekenntnis ab, der Öffentlichkeit meine vermeintlich wahre, ungeschönte Identität preiszugeben, und damit auch das demütigende Eingeständnis, bewusst getäuscht oder wenigstens Unvorteilhaftes bewusst verschleiert zu haben?
Wie glaubhaft mag eine Berufung auf ehrenvolle Absichten einerseits und der Verweis auf schwer zu kontrollierende unbewusste Vorgänge andererseits wohl wirken, die einen erheblichen Beitrag zur Ausbildung einer Persönlichkeit leisten?
Korrekturen meines Selbstbildes wären jedenfalls unerlässlich, wollte ich meine Glaubwürdigkeit erhöhen, zweifellos eine mühevolle und schmerzliche Arbeit, die auch demütigende Beschämung einschließen würde und möglicherweise dennoch erfolglos bliebe.
Wer würde ich danach sein?
Im günstigsten Fall ein anderer, besserer Mensch mit klaren moralischen Grundsätzen, ausgerichtet auf soziale Akzeptanz, Vertrauen und Wertschätzung, meinen Mitmenschen ein verlässlicher Partner, der Anerkennung aller gewiss. Ein Individuum vielleicht, dessen Sein mit seiner Person zu einer ununterscheidbaren Einheit verschmilzt, immun gegen selbstzerstörerische Anfechtungen, mit sich und seiner Umwelt im Reinen, ein ICH, das sich vielleicht selbst schätzen kann.
Wie gesagt, im besten Fall.
Und wenn nicht?
Ich mache mir nichts vor, ich bin ein schwacher Mensch, dessen Ansprüche an sich und wie er gesehen werden möchte, sehr oft seine Fähigkeiten übersteigen. Beantwortet das schon die Frage?
Die Antwort ist wohl differenzierter.
Vermutlich bin ich eine multiple Person, die mehrere unterschiedliche Wesensmerkmale in sich vereint, die je nach Bedarf zum Einsatz kommen und damit wohl eine Erweiterung der Frage erforderlich machen: Wer bin ich gerade?
Ist das in einer korrekten Welt zulässig, die auf Verbindlichkeit und Eindeutigkeit pocht, in der moralische oder ethische Erwartungen vor einer gnadenlosen Öffentlichkeit verhandelt und eingefordert werden?
Ich bin auch kein mutiger Mensch und definitiv fehleranfällig. Mich zu einer unangenehmen Wahrheit zu bekennen, fällt mir nicht leicht und ich fühle mich nicht unbedingt wohler, wenn ich mich dazu durchringe, zumal ich dem Verständnis meiner Mitmenschen nicht vertraue. Ich vermute, anderen Menschen geht es ähnlich. Mit gravierenden und vor allem nachhaltigen Änderungen ihrer Persönlichkeit, soweit ihnen Defizite überhaupt bewusst sind, ist bei den meisten wohl nicht zu rechnen.
Ich habe darüber nachgedacht und einen Vorsatz gefasst. Mag sein, dass er nicht auf breite Zustimmung stößt, für manche auch fragwürdig ist oder nicht weit genug geht:
Ich bin ich, vielleicht nicht ganz so, wie ich scheine, manchmal richtig gut, nicht wirklich schlecht und selten ungemein böse, meistens um Anerkennung und Zuneigung bemüht, oft unüberlegt und gedankenlos, sehr oft nachdenklich, gelegentlich scheinbar grundlos traurig und gerne vergnügt. Ich lüge manchmal und hasse mich für kleine strategische Unehrlichkeiten. Vor allem aber leide ich unter Lieblosigkeit und Missachtung.
Darunter besonders.
Spannender als die Frage Wer bin ich? ist also ohnehin die Überlegung Wer könnte ich sein? Was Potentiale anklingen lässt, die womöglich in mir schlummern und geweckt werden wollen. Es braucht jedoch Selbstvertrauen und Unerschrockenheit, über diesen Schatten zu springen, der mir (noch?) zu groß erscheint.
Wer ich bin, geht letztlich nur mich etwas an. Mehr und mehr lerne ich mich jedoch besser kennen und wenn ich eines Tages weiß, wer ich wirklich bin, werde ich auch wissen, wer ich sein könnte.
Bis dahin bleibe ich der ich bin.
Bin ich wer?
Wer sich diese Frage stellt, hat wenig Wissen von sich selbst oder ein bedauernswert schwaches Selbstbewusstsein. Auch mir ist sie nicht fremd, wenngleich ich mich nach Kräften gegen den Sog nach unten stemme, die sie auslöst.
Von außen gesehen ist die Frage rasch, vielleicht zu rasch beantwortbar: Natürlich ist man wer. Jeder ist wer, im Sinne einer unverwechselbaren Persönlichkeit, mit Anspruch auf Wertschätzung, Würde und Liebe. Dieses Recht ist unverhandelbar.
Warum stellt sich also jemand diese Frage?
Es klingt eine verzweifelte Ungewissheit über sich und die Welt an, in der dieses ICH keinen Platz für sich weiß, ein weinerliches Resignieren vor den Anforderungen, denen es sich nicht gewachsen fühlt, eine entsetzliche Traurigkeit und das Gefühl einer vermuteten Erbärmlichkeit seiner Existenz.
Das WER, das hier in Frage gestellt wird, verstärkt allenfalls noch durch ein überhaupt, schließt alle und jeden ein, die als begünstigt angenommen werden und steht als Synonym für einen elitären Kreis, dem sich dieses ICH nicht zugehörig fühlt. Es ist ein passives Ausgeschlossensein, das hingenommen wird, ohne auf einen Beleg für seine Berechtigung verweisen zu können. Das quälende Gefühl braucht auch keinen, ihm genügt die Annahme, kleiner und unbedeutender zu sein als alle anderen und einer besonderen Beachtung somit nicht wert. Welche traurige Befriedigung zieht dieses Verhalten aus der ständigen Zurücksetzung? Es ist ein zerstörerischer Kreislauf, der seine Energie aus der verhängnisvollen Lust an der Minderwertigkeit und der Scham vor dem Unvermögen, sich selbst zu lieben, bezieht.
Die besondere Tragik dieser psychischen Verfassung liegt darin, dass die gefühlte Unzulänglichkeit von außen a priori nicht geteilt wird, oder erst dann, wenn Versuche, das angeschlagene ICH vom Gegenteil zu überzeugen, fehlschlagen. Besonders traurig, wenn alle Maßnahmen zur Befriedung des verwundeten ICHs als „beschämende Gnadenakte“ zurückgewiesen werden, eine verzweifelt trotzige Abwehr, die eine vermeintlich unverdiente Erlösung vom zwanghaften Selbstmitleid verhindern soll.
Bin ich wer? verweist auf die Unglücklichen, denen diese Frage beständig auf der Seele brennt? Es sind die existenziell Verzweifelten, denen durch schicksalhafte Ereignisse die Lebensmitte abhandengekommen ist, die in den Trümmern ihres Daseins vergeblich nach ihrer Persönlichkeit suchen und tiefbetrübt darum ringen, sich selber annehmen zu können. Sie bedürfen unserer Anteilnahme und der Unterstützung bei der Suche nach ihrem verlorenen Selbst. Es muss unser aller Anliegen sein, ihnen eine Heimat zu sein, in der sie wieder wer sein können.
Welch großes, vielleicht unverdientes Glück, sich nicht betroffen fühlen zu müssen, welch wichtiger Anlass, danach zu trachten, sich selbst zu lieben!
Ich bin wer
Aus dieser Feststellung spricht vermutlich ein bewahrtes oder gerettetes Selbstbewusstsein, das sich seiner Werthaftigkeit gewiss ist. Es braucht sich niemandem anzudienen, bedarf auch keiner Zustimmung oder Bestätigung für die Exklusivität seines Seins, dieses ICH genügt sich selbst als souveräner Repräsentant seiner selbst. Ein stolzes Bekenntnis zu sich spricht aus diesen Worten, die keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit aufkommen lassen.
So klingen Überzeugungen, die erkämpft und Aussagen, die unwiderlegbar sind, eine ultimative Selbstvergewisserung, getragen vom Wissen um die eigene Einzigartigkeit und der Fähigkeit vertrauensvoll und gelassen in sich zu ruhen.
Ist das Glück, erarbeitet oder zugefallen, oder auch nur das vertrauensvolle Annehmen einer Selbstverständlichkeit?
Jedenfalls ist es ein hohes Gut, solange man es in Verantwortung pflegt, doch unheilvoll, wenn es in Arroganz umschlägt und sich anmaßt, sich über andere zu erheben und dem WER eine Extravaganz beimisst, die ausschließen möchte.
Behutsames Navigieren zwischen den Polen uneitles Bewusstsein der eigenen „Größe“ und notwendige Zurückhaltung bei der Selbstpräsentation ist herausfordernd und fehlerbehaftet.
Ich weiß es, auch mein Bemühen (wie das vieler Menschen) wer zu sein, ist evident, wenngleich es ein zähes Ringen ist, das sich stets aufs Neue beweisen muss.
Dennoch, aus Überzeugung „Ich bin wer“ sagen zu können, kann uns Mut verleihen, für Selbstvertrauen und Zuversicht sorgen und den Stolz und die Würde gestatten, der uns zusteht.
Nicht wenig in diesen Zeiten.
ICH BIN DER ICH BIN
Ist es blasphemisch, sich diese „Selbstbeschreibung“, so karg und nichtssagend sie auf den ersten Blick scheinen mag, zu eigen zu machen? Die Antwort, die Moses auf seine Frage, wer es denn sei, der zu ihm aus dem brennenden Dornbusch auf dem Berg Horeb (nach Exodus 3,1) spreche, ist nur auf den ersten Blick eine alberne Tautologie. Wer anders sollte der Sprecher schon sein, als der, der er (eben) ist?
Doch was sagt es uns?
Was vordergründig wie ein kindischer Sprachscherz klingt, ist allerdings kein billiger Joke in einer zweitklassigen Show.
Der da spricht untermauert mit dieser Aussage nichts weniger als die Bestätigung einer absoluten Existenz, die keine Legitimation braucht, um ihr machtvolles Dasein zu belegen. Um diesen „Identitätsnachweis“ mit sakraler Bedeutung aufzuladen, bedarf es eines spirituellen Denkens und entsprechender Erwartung. Hier manifestiert es sich auf höchster Ebene und übersteigt damit die profane Selbstbestätigung des Philosophen mit seinem vergleichsweise lakonischen Ich denke, daher bin ich bei weitem.
Und ist zugleich die Schwäche dieser „Identifikation“. Der Verzicht auf Evidenz, vielleicht auch das Wissen um die Unmöglichkeit sie zu erbringen, setzt Glauben voraus.
Als Variante der Selbstvergewisserung dann doch weniger blasphemisch als volatil.
Text: Udo Fellner
Foto: Manuel bonadeo