Lückenhafte Darstellung eines Phänomens
Der wohlgemeinte Hinweis, der den Stadtreisenden über die Lautsprecher der U-bahnstationen vor einem Unfall beim Besteigen oder Verlassen der Waggons warnt, gilt dem schmalen Spalt zwischen diesen und der Bahnsteigkante, in den man durch leichtfertige Missachtung der Vorsicht geraten könnte. Und damit einem Phänomen, das weit über den genannten Bereich in unserer Sprache und damit im Alltag Wurzeln geschlagen hat: der LÜCKE.
Das Wort, das auf das althochdeutsche lucka (9. Jhdt.) zurückgeht, hat ein Problem: es ist, wie man neudeutsch sagt, negativ besetzt, weist es doch in nahezu allen Verbindungen, in die es das Deutsche zwängt, auf eine eklatante Leerstelle hin, die einen Fehlbestand nur selten so vergnüglich apostrophiert wie Christian Morgenstern in seinem Gedicht Der Lattenzaun.
Es war einmal ein Lattenzaun,
Mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
Stand eines Abends plötzlich da –
Und nahm den Zwischenraum heraus
Und baute draus ein großes Haus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm,
Mit Latten ohne was herum.
Ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
Nach Afri- od- Ameriko.
Die Lücken, die sich allenthalben auftun, können beängstigend, sogar bedrohlich sein, wenn sie als Versorgungslücke den Mangel an lebenswichtigen Gütern betrifft oder als Sicherheitslücke gar unser Leben, das Land oder unsere Daten gefährdet. Der Mut zur Lücke, ein anderweitig durchaus probates Reformvorhaben, erscheint in diesem Fall jedenfalls äußerst fragwürdig.
Politisch prekäre Wirksamkeit erlangt der Casus delicti als Budgetlücke, wenn die jeweilige Regierung miserabel gewirtschaftet hat oder als Legitimationslücke auf Grund mangelnder Kompetenzausstattung des Europäischen Parlaments im Vergleich zu den nationalen Parlamenten. Vom Lücke-Theorem hingegen spricht man, so reizvoll ein Zusammenhang auch wäre, wenn der Kapitalwert der Gewinne dem Kapitalwert der Zahlungsüberschüsse entspricht. Wir können es also beruhigt von der Liste unserer Betrachtungen streichen.
Nicht allerdings die Künstlergruppe „Lücke“, die 1971 in Dresden mit Bezug auf die expressionistischen Künstler der „Brücke“ gegründet wurde und auf eine ebensolche im Kunstbetrieb der DDR hinweisen sollte.
Persönlich unangenehm wird die Lücke, wenn sie unser Gedächtnis befällt, unser Bewusstsein trübt oder einen Mangel an Bildung aufzeigt. Beeinträchtigt sie unsere Erinnerung, etwa im Fall von Ereignissen, deren öffentliche Kenntnis uns von Nachteil oder peinlich ist, kann der betreffende Ausfall sehr hartnäckig sein, wie Polizeiprotokolle und Gerichtsverhandlungen hinreichend belegen. Der Wahrheitsfindung könnte diesfalls die Beseitigung allfälliger Gesetzeslücken durchaus dienlich sein.
Im Vergleich dazu hat die harmlose Zahnlücke sogar das Zeug, als modisch-keckes Accessoire einem aufglühenden „Sternchen“ der Unterhaltungsbranche zu einem, wenn auch nur kurz anhaltendem Aufsehen zu verhelfen. Der bekannten Chansonnière Cissy Kraner hingegen verhalf eine solche sogar zu einem musikalischen Erfolg („Ich wünsch mir zum Geburtstag einen Vorderzahn Den meinen schlug der Ferdinand mir ein…“)
Kontroverser fällt da schon die Diskussion um die Oberschenkellücke, den sogenannten Thigh gap aus. Während er den einen als hippes Merkmal des knabenhaft androgynen Mädchentyps und weibliches Schönheitsideal gilt, verteufeln ihn Ärzte und Gesundheitsbewusste als perversen Trend zu einem lebensgefährlichen Magerwahn.
Es wäre nicht die Lücke, hinterließe sie nicht auch in der Welt der Wissenschaft ihre Spuren, die sich freilich allgemeiner Kenntnis weitgehend entziehen und nur Spezialisten beschäftigen. Etwa die Primzahlenlücke, die, dem Laien möge eine Kurzfassung genügen, die Differenz zwischen zwei aufeinanderfolgenden Primzahlen meint. Fachwissen benötigt auch die Definitionslücke, die keineswegs auf dem Unvermögen beruht, einen Sachverhalt eindeutig erklären zu können , sondern im mathematischen Teilgebiet der Analysis eine Stelle anzeigt, an der eine Funktion nicht festgelegt ist. Auch wenn der Erkenntnisgewinn für Nichtmathematiker gering ist, kann Entwarnung gegeben werden – diese Wissenslücke muss sie nicht beunruhigen.
Ambivalent erweist sich jedoch die scheinbar harmlose Baulücke. Deckt sie, mit leistbarem Wohnraum gefüllt, einen dringenden Bedarf ab, ist ihr unser Wohlwollen sicher. Als Kriegslücke meint sie hingegen eine durch Krieg verursachte klaffende Wunde in der Bausubstanz einer Stadt, was in der Regel mit menschlichen Opfern verbunden ist. Wie auch immer, in diesem Fall ist die Baubehörde am Zug, um durch einen geeigneten Lückenschluss die störende Leerstelle zu füllen. So manches Vorhaben hat sich aber im Nachhinein auch als ungeliebter Lückenbüßer herausgestellt, wenn überhastete oder unprofessionelle Planung am Werk war.
Eine lückenlose Darstellung der heftigen Verwerfungen, die dieses Wort unserer Sprache hinterlassen hat, konnte in dieser kleinen Betrachtung nur lückenhaft erfüllt werden und so soll sie mit einem positiven Beispiel schließen – der Parklücke. Wer eine solche nach nervenaufreibendem Suchen im Verkehrsgewühl der Großstadt endlich gefunden hat, kann sich in der Tat g LÜCK lich schätzen.
Welche Ironie, hat sich das vermaledeite Wort doch auch hier bereits unauslöschlich eingenistet.
Text: Udo Fellner
Foto: Bruno Figueiredo