Sie haben richtig gelesen, hier geht es um SEX.
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Über Sex öffentlich zu schreiben ist wie das Betreten eines verminten Geländes. Jeder glaubt zu wissen, was ihn dort erwartet, doch kaum jemand will darauf verzichten, den Wahrheitsgehalt selbst noch einmal nachzuprüfen. Wohlgemerkt, es geht um SEX und nicht um SEXUALITÄT, worüber durchaus mit Sachlichkeit, persönlicher Distanz, wissenschaftlicher Seriosität und damit öffentlichkeitstauglich gesprochen werden kann. Sex hingegen, das ist diese verschwitzte Sache mit dem Geruch von erhitzten Körpern in der Nase und dem Bild von zerwühlten Laken vor Augen, anstößig konnotiert und mit schlüpfriger Wortwahl kommentiert, die gewöhnlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet und sofern sie nicht nach Regeln praktiziert wird, den Hautgout des irgendwie Indezenten, Animalischen und Unbeherrschbaren besitzt.
Diese Regeln, die dem Kampf gegen unsere tierische Natur und damit dem Verlust des „Göttlichen“ in uns geschuldet sind, verdanken wir zu einem erheblichen Teil der „Lust- und Leibfeindlichkeit“ vieler Religionen, besonders aber dem Christentum, das seit Paulus und Augustinus den Körper mit seinen Bedürfnissen als verachtenswertes Gefängnis der Seele diffamiert. Besonders der Kirchenvater Augustinus hat seinen Abscheu gegenüber dem Körper als Quelle des Unreinen und Sündhaften zum Programm der katholischen Kirche bis weit in die Gegenwart einzementiert.
Ein weiteres Motiv in der obskuren Sicht auf den sexuellen Akt ist in der Furcht des 19.Jhdts vor der „alles verschlingenden Triebhaftigkeit des Weibes“ zu suchen, die ihren Ausdruck in der Femme fatale fand, die mit ihrer zügellosen Lust die gesellschaftliche Ordnung gefährdete und die Herrschaft des Patriarchats zu zersetzen drohte. Da passte der Mythos von der „vagina dentata“, der „bezahnten Vagina“, die ihren Namen der Obsession Freuds (sic!) für antike Mythen verdankt, gut zu seiner Theorie der Kastrationsangst. Selbst er, dessen Verdienste um eine Entdämonisierung der Sexualität anerkennenswert sind, war an der Erforschung der seelischen Abgründe, die er implizierte, mehr interessiert, als an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die weibliche Anatomie.
Auch wenn die moderne Theologie Paulus und Augustinus vom Vorwurf der Lust- und Leibfeindlichkeit freizusprechen sucht und darauf verweist, dass Gott die Menschen schließlich als Mann und Frau geschaffen habe, ihre Sexualität daher sozusagen mit göttlichem Einverständnis erfolge und als der körperliche Ausdruck ihrer Liebe zu verstehen sei, der zur Steigerung der Freude aneinander sogar die sexuelle Lust zuzugestehen sei, so ist sie doch weitgehend an Ehe und Fortpflanzung gebunden. Womit auch alle Spielarten der Sexualität, die nicht diesem Zweck dienen, etwa die Selbstbefriedigung und die Homosexualität, nicht die Zustimmung der Kirche finden, was durch die aktuelle Ablehnung der Segnung homosexueller Paare evident wird.
Während andere Kulturen und religiöse Traditionen einen entspannteren Umgang mit dem Sexuellen pflegen, wie etwa der Hinduismus, ist im Christentum die Nähe des Intimen zum Heiligen undenkbar. Während die entblößte Brust der „Maria lactans“, also der stillenden Gottesmutter, das äußerste Zugeständnis an Nacktheit im sakralen Raum bedeutet, finden sich auf hinduistischen Altären ekstatisch kopulierende Götter. Wen wundert es da, wenn in diesem Kontext der weibliche Orgasmus von der Kirche geleugnet und, bestenfalls als spirituell-mystischer Erregungszustand interpretiert, nur entrückten Nonnen zugestanden wird. Die Wissenschaft des 19.Jhdts ging überhaupt von einer Chimäre aus und schenkte der weiblichen Lust keine besondere Beachtung.

Aus dieser Tradition, die Körper und Geist als Antipoden sieht und den Körper als defizitbehafteten Teil unseres Wesens und damit dem Geist unterlegen darstellt, musste zwangsläufig die Angst vor Sex erwachsen, dessen animalische, unkontrollierbare Kraft den Geist und damit das Bild des Menschen als Geschöpf Gottes ständig bedroht.
Für die deutsche Philosophin Bettina Stangneth, die in ihrer philosophischen Untersuchung „Sexkultur“ ein Plädoyer für die Befreiung des sexuellen Begehrens und des Sprechens darüber von schambesetzten Vorurteilen vorgelegt hat, ist SEX eindeutig ein kulturelles Manifest und die Autorin interpretiert ihn als Ausdruck der je individuellen Wahrnehmung und „schöpferischen“ Selbstermächtigung des Menschen für die Bedürfnisse des Körpers.
Selbst Wilhelm Reich, der mit seinen Schriften zur Befreiung von sexueller Repression nichts weniger als eine Revolution auslösen sollte und sogar der Philosoph Herbert Marcuse maßen der „Sexualisierung der Öffentlichkeit“ durch übertriebene Liberalisierung (Stichwort „freie Liebe“ und ihrem politischen Schlachtruf der Sponti-Bewegung „Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment“) eine ähnlich negative Wirkung bei wie ihrer gewalttätigen Unterdrückung. Reich lehnte sogar die Autoerotik als unbefriedigende und zu Neurosen führende Spielart der Sexualität ab und befeuerte damit den Grundverdacht der psychischen und körperlichen Deformation, der auch von fortschrittlichen Sexualwissenschaftlern bis tief ins 20.Jhdt. aufrechterhalten wurde, wie Stangneth ausführt. Autoerotik oder ihr unzureichender Ersatzbegriff Selbstbefriedigung sei in der sexuellen Biographie jedes Menschen die erste Begegnung mit dem eigenen Körper und dessen Lustempfinden, meint die Philosophin und somit geeignet zu einem selbstreflexiven Bild von sich und damit zu Selbstkompetenz zu gelangen. Um sich aus den Zwängen einer einengenden und bevormundenden Haltung gegenüber dem individuellen sexuellen Begehren und der Lust zu befreien, brauche es „den Raum, der Menschen ermuntere, davon zu erzählen“ ohne Furcht vor inspizierenden und missbilligenden Blicken entrüsteter Sittenhüter, mögen sie nun einen weißen Mantel oder einen Talar tragen. Da mutet sogar der alte Goethe mit seinem ermunternden Vers „Seid reinlich bei Tage und säuisch bei Nacht, so habt ihrs auf Erden am weit´sten gebracht“ richtiggehend fortschrittlich an.
Zu einer ähnlichen Sichtweise, aber auf der mehr praktischen Ebene, gelangen auch die VertreterInnen einer sexpositiven Haltung, die jedem Mitglied der Gesellschaft ein selbstgewähltes Beziehungskonzept und sexuelle Praktiken zubilligt, unabhängig von sexueller Ausrichtung und Vorlieben, sofern es einvernehmlich und respektvoll geschieht.

Die deutsche Evolutionsbiologin Meike Stoverock nähert sich dem Thema Sex auf einem Umweg über die Evolution an, wobei die Beobachtung tierischer Partnerwahl, beispielsweise vieler Vogelarten aufschlussreich ist, bei denen die Weibchen ihre Paarungspartner wählen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, warum die Menschenfrauen die Hegemonie über Sex verloren haben ist die „Neolithische Revolution“ in der Jungsteinzeit, der Übergang vom Nomadentum zur Landwirtschaft, die eine völlig neue Lebensform und eine Neuordnung der Geschlechterbeziehung auslöste. Zu Beginn waren die Frauen im Nahrungserwerb als Sammlerinnen von wildwachsenden Früchten den jagenden Männern gleichberechtigte Partnerinnen beim Nahrungserwerb und konnten im Sinne der Evolution für die Paarung den für die Fortpflanzung Besten autonom auswählen – „Female Choice“ also, wie auch der Titel von Stoverocks Buch lautet. Das löste, so die These der Autorin, bei den Männern einen Selektionsdruck aus, der nur wenigen die Paarung ermöglichte, die sexuellen Bedürfnisse der übrig gebliebenen Männer aber nicht berücksichtigte.
Dieser „sexuelle Konflikt“ löste sich, als die Menschen in der Jungsteinzeit zu Viehzucht und Ackerbau übergingen. Nun wurde die Verwaltung und Pflege des Besitzes, die Aufzucht der Kinder und die Zubereitung der Nahrung den Frauen übertragen, die so aus dem öffentlichen Raum gedrängt wurden, durch die kulturelle Erfindung der Ehe in Abhängigkeit gerieten und zum Besitz der Männer wurden, die damit auch die „Ressource Sex“ kontrollierten. Die Zivilisation wurde androzentrisch, die Gesellschaft patriarchalisch strukturiert.
Auch der Umstand, dass noch Jäger-und Sammlerinnengesellschaften existieren, in denen „Female Choice“ keine Rolle spielt, nimmt der Hypothese Stoverocks nichts an Brisanz. Manche Anthropologen gehen sogar davon aus, dass das Verhalten der Menschen nichts mit Biologie zu tun hätte und vom tierischen Verhalten nicht ohne weiteres auf menschliches geschlossen werden könne. Als soziale Wesen seien Menschen überdies nicht ihrer biologischen Grundausstattung ausgeliefert.

Wie sehr das Thema Sexualität unser Leben bestimmt zeigt sich an einem Nebenschauplatz, der besonders in Zeiten der Pandemie zu boomen scheint – dem Geschäft mit Erotika. Wie DER STANDARD in seinem Bericht „Hier wollen alle nur das eine“ belegt, zeigt sich sowohl im Onlinehandel als auch in den Spezialgeschäften – die Bezeichnung Sexshop lehnen die meisten Betreiber ab – mit dem einschlägigen Sortiment an lusterregenden Waren eine erstaunlich positive Bilanz. Die Vermutung, dass die eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, die uns das Coronavirus aufzwingt, das Bedürfnis nach körperlicher Nähe gesteigert habe, ist nicht von der Hand zu weisen. Sexualpädagogische Studien der Sigmund-Freud-Universität belegen tatsächlich, dass das sexuelle Begehren zugenommen habe, die Lust auf Partnersex allerdings rückläufig sei. Wie dieser Trend zu bewerten ist, bleibt offen, die gestiegene Nachfrage nach diversen Sextoys, die vorwiegend der einsamen Lustbefriedigung dienen, sprechen aber für sich.
Wie auch immer: Sex und das Bedürfnis darüber zu reden sowie das Bekenntnis, zu seinem individuellen Begehren zu stehen, sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und dabei, ihr Schmuddelimage zu verlieren. Es sieht tatsächlich so aus, und noch einmal sei Bettina Stangneth zitiert, als ob wir lernten, „Sex als Geschenk zu betrachten, das es uns erlaubt, auf diese besondere Weise mit einem anderen zu uns selbst zu finden“.

Text & Bild: Udo Fellner

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