Überlegungen zu einer existenziellen Herausforderung in Zeiten der Pandemie
„Immer diese Entscheidungen!“, räsoniert die bekannte Schauspielerin im Fernsehen kokett gestresst, gequält von der existentiellen Frage, ob sie etwas kochen soll oder nicht und wenn ja, was und wie. Kein Grund besorgt zu sein, schließlich handelt es sich nur um Werbung für die Produkte einer marktbeherrschenden Handelskette, was die vorgebliche Qual der Wahl erheblich reduziert.
Ungleich schwieriger hat es da zweifellos Hamlet, der exemplarische Zauderer der Weltliteratur. Immerhin hat er zwischen sein oder nicht sein zu wählen, eine ungeheure Entscheidungslast, die bekanntlich zu einem letalen Ende führt.
Um sich im Wettbewerb zwischen Sein und Haben richtig zu entscheiden, braucht es wiederum eine moralische Grundausstattung, also Charakter, Erziehung und Bildung, wobei die Lektüre des Klassikers Haben oder Sein von Erich Fromm durchaus hilfreich sein kann.
Unglaubliche familieninterne Diskussionen kann hingegen die Wahl eines neuen Autos auslösen, wie man hören und sehen kann. Soll es nun ein großfamilientaugliches Allzweckgefährt sein oder doch eher eine PS-starke Imponierkutsche? Wie gut, dass mit der Marke XY, einem Auto, das beiden Wünschen gerecht wird, die Entscheidung leichter fällt.
Entscheidungen also in allen Bereichen unseres Lebens – banal oder hochkomplex, die uns tagtäglich mit Verweis auf die Autonomie unserer Willensbildung abverlangt werden. Doch wie frei sind wir wirklich in unseren Entscheidungen?
Trifft zu, dass wir, soferne wir uns an ethische und moralische Standards unserer Gesellschaft halten, tun und lassen können, was wir wollen, oder sind wir einer diffusen Bestimmung ausgeliefert, die unsere Handlungen längst festgelegt hat, ehe wir sie „wollen“, sind wir also sozusagen ein Spielball der Vorsehung, abhängig von Zufall und Schicksal?
Wollen Sie also zum Beispiel an einer Veranstaltung wirklich und aus eigenem Antrieb teilnehmen oder führen Sie bloß aus, was Ihnen durch Interesse, Neugier, Verpflichtung, Stimmung, „genetische Prägung“ oder sonst wie motiviert, bewusst oder unbewusst vorherbestimmt ist? Sind wir also bloß „fremdgesteuerte“ Ausführende oder eigenständige Vollstrecker unserer Vorhaben?
Nichts weniger als der freie Wille steht also auf dem Prüfstand, eine der elementarsten Fragen menschlichen Denkens, die uns seit jeher beschäftigt.
Nehmen wir z.B. die Empfehlungen der Regierung zur Eindämmung der aktuellen CORONA-Pandemie und unterziehen sie folgenden optionalen Überlegungen:
- Sie unterwerfen sich freiwillig und einsichtig den geforderten Maßnahmen;
- Sie verweigern die Maßnahmen und berufen sich auf gute und wohlüberlegte Argumente;
- Sie pfeifen auf alle Mahnungen und signalisieren dem System Ihre Ignoranz;
- Sie leisten aktiven Widerstand und sind bereit, für Ihre Überzeugung auch Nachteile in Kauf zu nehmen;
- Sie gehen in die „Innere Immigration“ und überlassen Ihr Handeln einem ungewissen und schicksalshaften Ablauf usw.
Es gibt, salopp gesagt, immer mehrere Möglichkeiten, sich zu entscheiden. Wenigstens aber zwei, so ist das eben in unserer dualistisch konstruierten Welt: ja oder nein, sein oder nicht sein, schwarz oder weiß, hopp oder tropp.
Aber sind diese Entscheidungen wirklich frei, d. h. völlig unbeeinflusst durch irgendwelche Vorbedingungen, getroffen worden? Immerhin fühlten Sie sich in Ihrer Entscheidung von niemandem gezwungen, Sie waren keinem nennenswerten moralischen Druck ausgesetzt, haben Ihre Emotionen durchaus unter Kontrolle, waren also augenscheinlich nicht wirklich verpflichtet.
Wer oder was, wenn nicht wir selbst, bestimmt dann, was wir wollen? Der Zufall, das Schicksal, eine Laune, Gott ?
Wir befragen die Philosophen. Immerhin nagen sie seit über 2000 Jahren an diesem Thema und sollten Antworten haben.
Die Deterministen unter ihnen sagen: nein, alles sei „vorherbestimmt und berufen sich auf die Kausalität. Die besagt, dass alle Ereignisse, die geschehen, eine zwangsläufige und eindeutige Folge aus vorangegangenen Ereignissen sind, mithin also – einmal in Gang gesetzt – unwiderruflich ablaufen. Wir kennen dieses Prinzip aus der Physik: Keine Wirkung ohne Ursache und umgekehrt.
Unsere Entscheidungen setzten also einen vorangehenden Auslöser voraus, der uns nicht einmal bewusst sein muss. Ein undurchschaubarer Masterplan bestimme unser Sein, behaupten sie. Doch wodurch wurde dieser Prozess in Gang gesetzt?
„Zufall!“, rufen die Deterministen. Und wenn nicht Zufall, dann … äh!
„Gott würfelt nicht!“, hält Albert Einstein dagegen und verleiht damit dem deterministischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang eine vehemente Absage.
Die Hirnforschung behauptet gar, komplizierte Schaltprozesse zwischen den Synapsen unseres Großhirns legten in Sekundenbruchteilen vor der getroffenen Entscheidung bereits fest, was wir in der jeweils aktuellen Situation „wollen“.
Aha! Aber bringt uns diese Erkenntnis weiter?
Die Tragweite dieser Sichtweise ist dennoch dramatisch, stellt sie doch nicht weniger als die Verantwortung für unser Tun in Frage. Wie kann jemand für sein, sagen wir gesellschaftsschädigendes oder kriminelles Verhalten verurteilt werden, wenn es doch nur Ergebnis einer unbeeinflussbaren, vorher festgeschriebenen Prägung ist? Gerichtsurteile würden zur Farce degradiert, müssten sie doch jedem Täter eine Vorherbestimmung für seine Verbrechen zugestehen. Nicht selten scheinen sie dieses Vorurteil auch zu bestätigen.
Hat sich übrigens nicht auch Hitler auf die VORSEHUNG berufen, und sich selbst als ihr kompromissloses WERKZEUG verstanden?
Eine schreckliche Denkfalle und ein beunruhigender Gedanke!
Gott würfelt also nicht!
Damit sind wir bei der Theologie. Doch auch von ihr erhalten wir wenig hilfreiche Antworten. Im Glauben an einen allwissenden Gott, der unsere Zukunft bereits kennt (und damit offensichtlich auch will), ist wohl jede Aussage über eine in voller Freiheit geäußerte Willensentscheidung höchst problematisch. Folgen wir der Bibel, ist aus dieser Sicht Evas folgenschwere Wahl wohl anders zu beurteilen, war ihr Vergehen doch längst entschieden, ehe es erfolgte, die Verführung durch die Schlange nur mehr eine Formsache. Unsere „Ureltern“ wären demnach mit einem Handicap in ein Spiel eingetreten, das sie nicht gewinnen konnten. Wenn ihr und unser aller Sündenfall also von Anfang an „vorgesehen“ war, kann die „Freiheit“ ihrer Entscheidung wohl nur als Falle gedeutet werden.
Was kann uns das über Gott sagen? Und was über Sünde, Schuld und Strafe?
Es ist eine unangenehme Frage, mit der sich die Theologen da konfrontiert sehen. Die katholischen interpretieren den freien Willen daher auch höchst kompliziert und spitzfindig als Option, die Gnade Gottes anzunehmen oder auch nicht. Punkt. Und was ist mit der Schuld, die der „falschen Wahl“ folgt? Und was mit der Strafe, die darauf folgt? Falsche Wahl, Pech gehabt!
Befriedigende Antworten sehen anders aus.
Die protestantische Theologie lehnt den freien Willen, dem lutherschen Diktum folgend 1), tendenziell gleich ab und neigt einer Prädestination 1) zu, einem theologischen Konzept, dem zufolge Gott von Anfang an das Schicksal des Universums und aller Menschen vorherbestimmt hat. Im Calvinismus findet es mit der Vorherbestimmung von Seligkeit oder Verdammnis der Gläubigen eine extreme Auslegung. Die Möglichkeiten, diesem Fatum zu entrinnen, sind bescheiden und, man kann es nicht anders sagen, moralisch höchst elastisch.
Schwere Kost und eine arge Herausforderung jedenfalls für den kritischen Geist und die Vernunft .
Halten wir uns also doch lieber weiterhin an die Philosophie. Namhafte Vertreter der neueren Philosophie sehen diese „Vorherbestimmung“ nämlich durchaus mit einem freien Willen im engeren Sinne vereinbar und finden dafür eine pragmatische Erklärung: weil uns weder eine allenfalls „vorherbestimmte Zukunft“ noch die zugrundeliegenden Bedingungen bekannt oder zumindest bewusst sind, muss die Willenskundgebung zum Zeitpunkt der Entscheidung frei gewesen sein.
Chapeau! Eine elegante und überzeugend praktische Lösung!
Bei der Bewältigung ihrer Alltagsprobleme sind den Menschen diese philosophischen Kraftanstrengungen freilich nicht hilfreich, weshalb die Frage nach der Freiheit ihrer Entscheidungen obsolet ist.
Mehr als die Überlegung, ob ihre Wahl frei getroffen wurde, beschäftigt nämlich die meisten Menschen, ob sie in vielen Belangen überhaupt eine Wahl haben oder oft nur die zwischen wenig attraktiven Alternativen, sozusagen zwischen Pest und Cholera. Die bedauernswerten Opfer der aktuellen Kriegs- und Katastrophengebiete bestätigen dies Tag für Tag aufs Eindrucksvollste.
In solch einer misslichen Lage wäre neben effizienter Hilfe oft schnelle Entschlusskraft und rasches Handeln gefordert, wie sie Helden zugeschrieben werden.
Alexander dem Großen etwa, der den „Gordischen Knoten“ 2) sozusagen mit einem Schlag löste oder Christoph Kolumbus , der, wie es die Legende will, ein Ei mit einem ebenso raschen wie kühnen Entschluss zum Stehen gebracht haben soll..3)
Doch sind wir heute nicht oft mit der gegenteiligen Erscheinungsform konfrontiert, der trägen Entschlusslosigkeit, dem zögerlichen Abwarten und kraftlosen Zaudern?
„Schau`ma amol, dann werd´n ma´scho´seh´n!“ ist das, durchaus österreichische, Lebensmotto jener bedauernswerten Zeitgenossen, denen es grundsätzlich schwer fällt, sich zu entscheiden und das in der aktuellen Politik allzu oft seinen öffentlichen Ausdruck findet.
Antriebs- und kraftlos scheinen sie es dem Schicksal oder einer anderen Instanz zu überlassen, ihr Leben zu organisieren. Sie gleichen jenem Esel, von dem ein Gleichnis des scholastischen Philosophen Johannes Buridan erzählt und das als „Buridansches Paradoxon“ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist:
„Ein Esel steht zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen. Er verhungert schließlich, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll.“
Man möchte meinen, auf diese Menschen treffe zu, was Jean-Paul Sartre mit seinem existentialistischen Dogma „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt!“ gemeint hat – vielleicht der wahre Sündenfall? Folgt daraus etwa auch die „Furcht vor der Freiheit“, die unsere Entscheidungen lähme, wie Erich Fromm schreibt. Diese Furcht, vermutet er, habe den Menschen isoliert, ängstlich und anfällig für Ohnmachtsgedanken gemacht und zur Flucht animiert.
Die einen flüchten in Frustration und ziehen ein entscheidungsfreies, weitgehend fremdbestimmtes aber bequemes Leben vor. Ihnen hat der russische Dichter Iwan Gontscharow mit seiner Romanfigur Oblomow ein literarisches Denkmal gesetzt.
Karl Valentin, der geniale Spötter, hat diese kleinliche Unentschlossenheit und bornierte Trägheit pointiert entlarvt: „Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“
Vaclav Havel, der ehemalige charismatische Präsident des postkommunistischen Tschechien, formulierte es – freilich aus anderen Gründen – politisch hellsichtig so: „Wir sind wie Gefangene, die sich an das Gefängnis gewöhnt hatten, und, aus heiterem Himmel in die ersehnte Freiheit entlassen, nicht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollen, und verzweifelt sind, weil sie sich ständig entscheiden müssen. “ Wer mag, kann sich in dieser Zustandsbeschreibung erkennen.
Andere wiederum werden aggressiv und besänftigen ihre aufgewühlten Emotionen mit destruktiven Handlungen gegen sich und die Außenwelt. Wir kennen die Berichte von den zügel-losen Gewaltexzessen, die sich weitgehend bewusst- und verantwortungslos unter einem anonymen kollektiven Kommando entladen?
Natürlich, Freiheit kann anstrengend sein, wir sprechen ja auch von der Qual der Wahl, und sie hat auch ihren Preis: der heißt Verantwortung.
Wem dieser Preis zu hoch ist, der sehnt sich möglicherweise danach, die Verantwortung abzugeben: an Institutionen, die Regierung, Parteien, charismatische Führernaturen …, eine gefährliche Schwäche, wenn es dabei um einen autoritären Machtanspruch geht.
Nach einer Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie aus dem Jahr 2003 zum Freiheitsverständnis der Deutschen habe „der Wert der Freiheit in den neunziger Jahren deutlich an Boden verloren …“. Zwar bekenne sich die Bevölkerung zur Freiheit im Sinne von Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, doch im konkreten Konfliktfall überwiegen die Ängste vor den mit der Freiheit verbundenen Risiken und das Bedürfnis nach Absicherung durch einen fürsorglichen Staat. „Freiheit habe zwar einen guten Namen“, so das Fazit der Studie, „aber eine schlechte Aura.“
Da ist sie wieder: die Furcht vor der Freiheit.
Und es gibt keinen Grund, Österreich von diesem Befund auszunehmen.
Letztlich und im Alltag ist es ohnehin egal, ob unsere Entscheidungen frei, bedingt frei oder vorherbestimmt getroffen werden, für die Folgen haben wir uns so oder so zu verantworten.
Müssen wir also zur Freiheit erzogen werden? Ich denke, ja – und so früh wie möglich!
Noch einmal sei die Bibel zitiert: „Eure Rede aber sei: Ja! Ja! Nein! Nein! Was darüber ist, das ist vom Übel“, richtet uns der Evangelist Matthäus in der Bergpredigt aus. Es ist das berühmte Jesus-Wort gegen die Unverbindlichkeit und für eine eindeutige und klare Entscheidung.
Entscheidungen mutig und in vollem Bewusstsein der Verantwortung zu treffen bedeutet nämlich nicht nur einen Gewinn an Freiheit, sondern auch an Würde und Menschlichkeit, Eigenschaften, die dem selbstbewussten Geist dann wie von selbst zuwachsen.
Über die Schwierigkeit, einen Menuplan zu erstellen, können wir dann ohne Prestigeverlust noch immer lamentieren.
Anmerkungen:
- „Die Allwissenheit und Allmacht Gottes steht in diametralem Widerspruch zu der Freiheit unseres Willens. – Alle Menschen werden mit unvermeidlicher Konsequenz gezwungen, anzuerkennen, dass wir nicht durch unseren Willen, sondern vielmehr aus Notwendigkeit geschehen; so tun wir also nicht, was uns beliebt, nach dem Gebot unseres freien Willens, sondern handeln so, wie Gott es vorgesehen hat und durch unfehlbaren und unwandelbaren Ratschluss und Willen ausführt. “ (Martin Luther)
- Der Sage nach prophezeite ein Orakel, dass derjenige die Herrschaft über Asien erringen werde, der den kunstvoll geschlungenen Knoten am Streitwagen des phrygischen Königs Gordios lösen könne. Viele kluge und starke Männer versuchten sich an dieser Aufgabe, aber keinem gelang es. Plutarch beschreibt, dass 333 v. Chr. Alexander der Große auf seinem Zug Richtung Persien diesen Knoten einfach mit seinem Schwert durchschlagen und damit seinen Siegeszug durch Asien eingeläutet hat.
- Das Ei des Kolumbus ist eine Redensart, die eine verblüffend einfache Lösung für ein unlösbar scheinendes Problem beschreibt.
Die Herkunft der Redensart soll auf einer Anekdote beruhen, die so erzählt wird:
Christoph Kolumbus wird nach seiner Rückkehr aus Amerika während eines Essens bei Kardinal Mendoza im Jahr 1493 vorgehalten, es sei ein Leichtes gewesen, die „Neue Welt“ zu entdecken, es hätte dies schließlich auch jeder andere vollführen können. Daraufhin verlangt Kolumbus von den anwesenden Personen, ein gekochtes Ei auf der Spitze aufzustellen.
Es werden viele Versuche unternommen, aber niemand schafft es, diese Aufgabe zu erfüllen. Man ist schließlich davon überzeugt, dass es sich hierbei um eine unlösbare Aufgabe handelt, und Kolumbus wird darum gebeten, es selbst zu versuchen. Dieser schlägt sein Ei mit der Spitze auf den Tisch, so dass sie leicht eingedrückt wird und das Ei stehen bleibt. Als die Anwesenden protestieren, dass sie das auch gekonnt hätten, antwortete Kolumbus: „Der Unterschied ist, meine Herren, dass Sie es hätten tun können, ich hingegen habe es getan!“
Text: Udo Fellner
Foto: Jordan Ladikos