Menschen lieben den Vergleich. Das augenfällige Anderssein drängt nach Gewissheit. Was sofort als größer, schwerer oder wertvoller erkannt wird, macht uns allerdings nur oberflächlich zufrieden, wir wollen es genauer wissen. Um wieviel ist etwas größer, schwerer oder wertvoller?
Dazu braucht es Maße, Gewichte, Uhren, Skalen und Normen. Haben wir den Unterschied festgestellt, löst dieses Wissen unterschiedliche Reaktionen aus. Die Bestätigung einer Vermutung kann Befriedigung, ja Stolz auf das gute Auge und die erworbene Erfahrung auslösen; sie vermag uns aber auch zu bestürzen, wenn uns der Vergleich zum Nachteil gerät. Neid und Hass können sich einstellen, wenn sich das erfolgreichere Objekt unseres Vergleichs auf die besondere und jedenfalls bessere Leistung eines Konkurrenten zurückführen lässt.
Dann neigen wir dazu, die mühsam ausgehandelten Normen in Frage zu stellen oder wenigstens ihre Anwendung. Die Verfeinerung der Messmethoden lässt dafür aber wenig Spielraum, sie sind zu genau und schwieriger zu manipulieren.
Mit Staunen nehmen wir die Bemühungen um Eindeutigkeit und Genauigkeit aus früheren Zeiten zur Kenntnis. Die unterschiedlichen regionalen Maßeinheiten erforderten komplizierte Umrechnungen, was beim damaligen Bildungsniveau wohl nur wenige leisten konnten.
Neben den amtlichen Maßen gab es eine unglaubliche Fülle an volkstümlichen, die einerseits vom (verzweifelten?) Bedürfnis nach Unterscheidbarkeit, andererseits aber auch vom phantasievollen, gelassenen Umgang mit den Tücken des Alltags sprechen.
Sehr oft genügte da wohl auch das Vage und Ungefähre, wo kein Normdruck oder neuzeitlicher Regulierungswahn die Einhaltung strenger Richtlinien forderte.
Auf ein „Alzerl“ mehr oder weniger kam es da nicht an, wenn Ware gegen Ware oder Geld getauscht wurde. Auf die Gutwilligkeit der Obrigkeit war man ohnehin immer angewiesen. Das Vertrauen der Mitmenschen musste man sich durch Beweise der Ehrlichkeit erst verdienen.
Vieles war auch Verhandlungssache. Wer konnte schon behaupten, zu wissen, welche Flüssigkeitsmenge denn nun ein „Noagerl“ ( von Neige ) ausmachte, etwa von Milch oder Wein, das man zu bezahlen hatte. Von Fall zu Fall wird es wohl Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben haben, die zu klären waren – angemessen und maßvoll, wie wir hoffen.
Betrug der Unterschied einer Strecke eine „Daumenbreite“, durfte wahrscheinlich noch weitgehend Einigkeit erwartet werden, so groß war der Unterschied schwieliger Männerdaumen vermutlich nicht, größere Interpretationsbreite ließ aber wohl die Aussage zu, die Differenz betrage ein „Hauseck“.
Der österreichische Sprachschatz lässt bei Maßangaben seit jeher augenzwinkernd kreative Spielräume zu und pflegt Unschärfen liebevoll. Bisweilen sogar auf Kosten mathematischer Normen. So entspricht das „Achterl“ eben nicht genau der erwarteten Menge und auch das „Vierterl“ erlaubt scheinbar einen Nachschlag aufs Ganze. Dass dieser Sprachgebrauch vor allem im Zusammenhang mit Alkohol gepflegt wird, ist eine Besonderheit heimischer Kultur, die den Diminutiv zum Leitmaß erhoben hat. Hierzulande ist alles, was klein ist, noch ein bisserl kleiner, das Wenige ist noch ein „wengerl“ geringer.
Anderswo mag man sich über frugale Portionen, etwa bei übersichtlich arrangierten Haubenmenus, beklagen, bei uns empört man sich über die Zumutung, ein derartiges „Batzerl“ serviert zu bekommen.
Es bedarf unterschiedlicher Aufwendungen, um jemanden in Wut zu versetzen, im Allgemeinen wohl schwer messbarer Schritte, um sie am Köcheln zu halten oder sogar noch zu steigern, dem Österreicher genügt indessen ein gezielt nachgelegtes „Schäuferl“, um das angeheizte Feuer zum Lodern zu bringen.
Die Beschränkung auf das kleinere Format ist wohl nur vordergründig ein charmant harmloser Verzicht auf unangemessene Ansprüche, in Wahrheit handelt es sich um eine perfide und kleinbürgerliche Revolte gegen normative Eindeutigkeit.
Darf im Allgemeinen ein ehrliches Bemühen um Genauigkeit durchaus vermutet werden, so offenbart sich gelegentlich aber auch phantasievoller Witz als Ausdruck fatalistischer Resignation.
Was immer sich etwa nur knapp ausging, oder die erzielte Absicht nur ein wenig verfehlte – es war „um´s Arschlecken“ zu viel oder zu wenig. Selber schuld, wer sich dadurch beleidigt fühlt.
Bei derart üppiger Varianz fühlt der gemaßregelte Zeitgenosse in einer Welt der digitalen Mess- und Regulierungswut schmerzlich den Verlust dieser Vielfalt menschlichen Maßes.
Text: Udo Fellner
Foto: Diana Polekhina