Rauchfahnen schwindender Schiffe
gleichen entwichene Träume.
Der Bindung einmal entrissen,
triften sie träge ins Vage.
Dem bleichen, lidlosen Jäger
eine kraftlose Beute.
Selene erwachte.
Wieder um die gleiche Zeit wie am Tag zuvor und an allen Tagen davor. Mit kleinen Abweichungen sogar auf die Minute genau.
Es war dunkel und still um sie. Der kleine rote Lichtpunkt wies ihr den Weg ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief auf Stand-by. Sie hatte wieder vergessen ihn auszuschalten. Sie drückte die AUS-Taste, das kleine rote Licht erlosch. Dann trat sie zum Fenster und zog den Vorhang zurück.
Sie blickte auf die Stadt, die sich ebenfalls im Stand-by-Modus befand, schlafend, aber hell erleuchtet. Ein helles Netz aus unzähligen Straßenlaternen, Leuchtreklamen und Schaufenstern spannte sich über das Häusermeer, in dem jetzt schlafende, vom Tagwerk erschöpfte Körper ruhten.
Hin und wieder kroch ein spätes Auto durch die Straßen, stocherte mit Scheinwerferfingern in der Dunkelheit, langsam und wie auf der Suche nach einer passenden Höhle, in der es ebenfalls in Schlaf sinken konnte.
Die Stadt atmete aus tausenden Lungen von schlafenden Menschen, gleichmäßig und ruhig, die nicht wussten, dass ihre Atemzüge die Wände der Häuser rhythmisch blähten.
Selene war immer wieder erstaunt, wie ahnungslos sich die Menschen der Nacht anvertrauten. Arglos legten sie sich Abend für Abend und Nacht für Nacht in ihre Betten, lasen noch ein wenig, zankten oder versöhnten sich, liebten sich oder weinten sich verzweifelt in den Schlaf, so als ob es undenkbar wäre, dass es kein Morgen geben könnte. Die Gewohnheit hatte sie sorglos werden lassen, in der Einsamkeit ihres Schlafes fühlten sie sich sicher.
In der Dunkelheit hätte wer weiß was geschehen können und niemand hätte es gemerkt. Eine Wolke oder ein dunkles Verhängnis hätte sich lautlos über die Stadt stülpen können. Sie hätten es nicht gemerkt und die Gedanken, mit denen sie in den Schlaf geglitten wären, wären vielleicht ihre letzten gewesen, die Träume, die alsbald gefolgt wären, wären nie geträumt worden. Noch bevor sie sich aus den Tiefen der Seele gelöst hätten, wären sie zurückgeblieben und hätten ihr schönes oder hässliches Werk nicht vollbringen können.
Aber es blieb alles ruhig. Nach und nach waren die Lichter in den Zimmern erloschen und hinter den Vorhängen war Stille eingekehrt.
Nichts hatte sich verändert, nicht einmal die Schatten, die beharrlich die ganze Nacht über an den gleichen Stellen verharrten. Anders als am Tag, wo sie dem Diktat der Sonne gehorchen und wandern mussten oder überhaupt nicht in Erscheinung traten, wenn es trüb war oder regnete.
Irgendwann erstarben die letzten Regungen, hatte der letzte nächtliche Wanderer seine Bleibe erreicht, hatten sich die ausdauerndsten Obdachlosen in ihre elenden Behausungen zurückgezogen und waren in ihre rauschhafte Bewusstlosigkeit gestürzt, hatten die letzten Autos ihr Ziel erreicht.
Dann glich die bewusstlose Stadt einer leeren Bühne, in der nur die vergessene Lampe der Souffleuse und einige liegengelassene Requisiten daran erinnerten, dass wenige Stunden zuvor ein Stück gespielt worden war. Das leise Knistern und Summen eines Aggregats, das sich regelmäßig ein- und ausschaltete, blieb ungehört, so wie die dünnen Wolken unbemerkt blieben, die still über die Häuser glitten wie der Gazestore hinter dem schweren Bühnenvorhang, der sich im Luftzug einer offen gebliebenen Tür leicht bauschte.
Über allem zog der Mond unbeteiligt seine kalte Bahn.
Die Sterne über der Lichtglocke mühten sich vergeblich um Sichtbarkeit, nur der Polarstern funkelte und weit dahinter im Norden zeigte sich schwach das „Himmels-W“ der Kassiopeia.
All das sah Selene und sie sah es mit Freude und bewegt von der stillen Pracht, die ihr zu Füßen lag.
Geduldig wartete sie auf den Ruf, dem sie auch in dieser Nacht folgen würde.
„Wer wird mich heute träumen?“, fragte sie sich. Würde sie in einen lieblichen Traum gerufen werden, in dem sie dem Schläfer schöne und beglückende Bilder schenken könnte, Bilder die er tagsüber gesammelt, aber gleich wieder vergessen hatte und die er nun ernten durfte? Oder wäre sie ausersehen, den Kummer einer abgelegten Geliebten zu mildern und ihre grausame Enttäuschung vielleicht durch eine beglückende Erinnerung aufzulösen? Manchmal, und das waren schlimme Erfahrungen, geriet sie auch in schreckliche Träume, in denen sie den Träumenden Angst machen musste, indem sie sich auf ihre Brust hockte, mit brennenden Augen in ihre Seele schaute und sie zum Schreien brachte, bis sie sie schließlich gnädig aus dem Schlaf riss und mit pochendem Herzen und wirren Gedanken zurückließ.
Ein schwaches Funkeln blieb dann den jäh Erwachten als Nachbild des überlebten Schreckens noch eine Weile beklommen in Erinnerung, bis sie von Müdigkeit betäubt wieder in die Tiefe sanken.
Am liebsten hatte sie die Kinderträume. Für sie hatte Selene Blumen bereit, ein hübsches Lied, ein sanftes Märchen und die Erinnerung an schöne Spiele, Süßigkeiten und innige Umarmungen.
Sie wusste nicht, wie sie dazu gekommen war, in fremde Träume einzudringen. Es waren Rufe, denen sie folgte. Sie betrat dann Räume, die sie nicht kannte, bis sie auf den Traum traf, der auf sie wartete, um sich von ihr befreien zu lassen. Die Träume brauchten ihre Hilfe, den meisten Menschen waren sie jedoch gleichgültig. Sie kümmerten sich nicht um sie, vergaßen sie sofort nach dem Erwachen oder schüttelten sie verärgert ab, wenn sie ihnen eine unruhige Nacht beschert hatten. Dann verbannten sie sie in unzugängliche Tiefen, wo sie erst von Selene befreit werden mussten.
Die hartnäckigsten unter ihnen, wollten jede Nacht hinaufsteigen. Vor denen hatten die Menschen Angst. Sie verziehen ihnen nicht, dass sie sie verdrängten und rächten sich gehässig. Das schmerzte Selene, denn sie bedauerte es, wenn die Menschen unter ihren Träumen litten, was manchmal böse Folgen hatte.
Am schlimmsten war es für sie, wenn Träume entkamen. Manche hatten die Neigung, sich selbständig zu machen. Vielleicht suchten sie einen anderen Menschen, bei dem sie sich willkommen fühlen würden. Oder sie waren es leid, immer das gleiche Stück aufzuführen. Es gab sicher auch welche, die sich verantwortlich fühlten, mehr Einfluss zu nehmen und die Welt mit ihren Botschaften zu verbessern. Einige verloren sich wohl auch oder vertrockneten, weil sie nicht gebraucht wurden oder einfach ihre Kraft eingebüßt hatten.
Aber es gab auch die, die sich für ihr finsteres Wirken passende Menschen suchten. Menschen, denen die Phantasie für ihre bösen Absichten fehlte und die sich Anregungen erwarteten. In den Abgründen ihrer Gastgeber fanden diese Träume Gleichgesinnte, die wie sie ihrer langweiligen Herkunft entkommen waren und nun, zu unheilvollen Vorstellungen verdichtet, nach deren Verwirklichung strebten.
Sie kannten den Weg nach oben bereits und konnten auf Selenes Hilfe verzichten.
Selene mochte sie nicht, konnte ihr Wirken aber auch nicht verhindern. Sie waren frei wie Wölfe, die einer verheißungsvollen Spur folgten und nicht ruhten, bis sie gefunden hatten, wonach ihr Schläfer trachtete. Sie konnten großes Unheil anrichten, wenn der Mensch ihren nächtlichen Einflüsterungen erlag.
Doch selbst die schlimmsten unter ihnen verloren ihre Macht, sobald sich der Tag von seinem Lager erhob und die Nacht abschüttelte.
Dann wurde es für Selene Zeit, sich ebenfalls zur Ruhe zu begeben und ihren eigenen Traum aus der Tiefe zu heben, den Traum, der sie seit langem bewegte und der so erregend war und nach Freiheit roch.
Sobald sie in ihn eintauchte, erfüllte eine unglaubliche Helligkeit und Wärme ihren Schlaf, Düfte und wundersame Geräusche und fernes Murmeln versetzten sie in eine gespannte Erwartung und eine Ahnung von einer anderen, aufregenden Wirklichkeit nahm langsam in ihrer Seele Gestalt an.
Text: Udo Fellner
Foto: Carolina de León