Wie hatten sie das kalte Klima gehasst, den weihnachtlichen Schnupfen und die Adventheiserkeit. Die nebligen, eisigen Tage und die morgendliche Finsternis.
Damit sollte nun Schluss sein. Sie waren unterwegs in die Wärme des Südens. Zwei Wochen Sonne, Sand und Meer.
Ade tropfende Nase, Glatteis und Wärmeflasche! Vergessen Hustentee, Flanellpyjama und Erkältungsbad.
Stattdessen tropisches Flair, Flipflops und weißer Strand.
Und auch auf den weihnachtlichen Rummel, das Gedudel und Gedränge in den überheizten Geschäften konnten sie liebend gerne verzichten.
Sie hatten Geld und Urlaub gespart um sich den Traum vom Süden zu erfüllen. Jetzt saßen sie im Flugzeug nach Thailand und ließen die weihnachtlich hektische Heimat leichten Herzens zurück.
Die Ankunft frühmorgens verlief problemlos. Beim Auschecken traf sie die feuchte Hitze zwar wie ein Keulenschlag, doch der Transfer ins Hotel war gut organisiert, die landestypische Freundlichkeit der Menschen wohltuend.
Das Hotel, ein nagelneuer Riesenkasten, lag unmittelbar am Meer, vom Fenster ihres Zimmers im 8.Stock – sehr schön, sehr sauber – sah man direkt auf den gepflegten Strand und eine fantastische Poollandschaft.
Das Fenster ließ sich zwar nicht öffnen – sorry, air-condition! – aber was machte das schon, sie würden sich ohnehin nicht viel im Zimmer aufhalten.
Sie wollten erst ausruhen – jetlag! – und dann gleich an den Strand gehen.
Herrlich, wie wenig man anziehen musste!
Die Ruhe verlief leider nicht ganz ungestört. Die Klimaanlage surrte, leise nur, aber unentwegt und sandte einen kühlen Hauch über die Betten, der sie frösteln ließ.
Überdies trampelten pausenlos aufgeregt schnatternde Reisende durch die Hotelkorridore – offenbar war Urlauberschichtwechsel.
Am Pool führte eine Band einen lautstarken soundcheck durch – vermutlich für eine abendliche Veranstaltung.
An Ruhe war also vorerst nicht zu denken, die beiden Reisenden verschoben sie auf später, es würde noch genug Zeit dafür sein. Sie schlüpften in frische Shorts und T-shirts und fragten nach dem Weg zum Strand.
Laut Hotelprospekt sprach das Personal Englisch. Es hatte wohl frei, der Rest beherrschte nur die Landessprache. Nach vergeblichen Versuchen in allen Sprachen, die sie rudimentär kannten, machten sich die beiden auf eigene Faust auf die Suche nach dem Ausgang. So schwierig konnte das ja wohl nicht sein. Wozu war man bei den Pfadfindern gewesen!
Als sie schließlich in der Wäscherei im Keller landeten, hatten sie mindestens ein Dutzend freundlich schnatternder Hotelangestellter
befragt und unter unzähligen Verbeugungen, dramatischem Augenrollen und wilder Gestikulation auch bereitwillig Auskunft erhalten, die sie jedes Mal in eine andere Etage mit weiteren endlosen Gängen führte.
Ein freundlicher Herr im weißen Mantel, offenbar der laundry manager, fragte sie schließlich nach ihrem Begehr und auf ihr flehentliches „exit to the beach, please!“ bot er sich an, sie zu begleiten.
Als sie schließlich den Strand erreichten, setzte bereits die Dämmerung ein und die Sonne versank blutrot im Meer – genau wie im Prospekt.
Es war ein überwältigender Eindruck, der Urlaub ließ sich gut an.
Das Abendessen wurde auf der Terrasse serviert, wie sie dem Informationsblatt entnahmen, das im Zimmer auflag. Sie duschten, schlüpften in leichte Sommerkleidung und machten sich auf den Weg.
Sie fanden die Terrasse auf Anhieb, leider war es die falsche. Am Empfang erhielten sie die Auskunft – selbstredend überaus freundlich -, dass auf der Strandterrasse am anderen Ende des Hotels gedeckt war – sorry!
Kein Problem! Verschwitzt und leicht derangiert gelangten sie nach einem kleinen Umweg durch den Wäschereikeller zur richtigen Terrasse und wurden von einem freundlich lächelnden Kellner nach Mitteilung der Zimmernummer an den für sie reservierten Tisch geführt.
Das üppige Buffet entschädigte sie dann doch für die aufgetretenen Schwierigkeiten und bestätigte die Richtigkeit ihres Entschlusses. Die traumhafte Tropennacht tat ein Übriges und sie waren bereit alles zu verzeihen.
Nach dem Essen spielte die Band zum Tanz auf. Der soundcheck war offenbar zwecklos gewesen, denn die Musik war trommelfellzerfetzend. Jede zweite Nummer war ein Walzer oder eine Polka – zur Ehre und Freude der vielen europäischen Gäste, wie der Bandleader unter unzähligen Höflichkeitsbezeugungen nicht müde wurde zu versichern – in erbarmungswürdigem Tempo, infernalischer Lautstärke und grauenhafter Phrasierung dargeboten.
Erschöpft und taub verließen unsere Urlauber diesen Vorhof zur Hölle und gelangten nach einer neuerlichen Odysee, gelotst von einem erfahrenen Hotelpartisanen mit GPS, tatsächlich ohne größere Pannen in ihr Zimmer. Todmüde sanken sie in ihre Betten, um sich endlich auszuschlafen.
Mit einigen Adaptionen sollte es schließlich auch gelingen. Die Kissen, mit denen sie die eisige Klimaanlage außer Gefecht setzen konnten, fehlten nun allerdings, um eine Lärmschutzbarriere gegen die höllische Musik zu errichten.
Irgendwann, es musste weit nach Mitternacht gewesen sein, fielen sie dann doch in einen komaähnlichen Schlaf.
Am nächsten Tag war Weihnachten.
Sternenweit entfernt hörten sie unzumutbar früh ein Pochen, das zunehmend lauter und drängender wurde, je mehr sie aus den Abgründen ihres Erschöpfungsschlafes in die oberen Regionen des Bewusstseins auftauchten. In der Tat klopfte es an ihrer Tür und ein dringendes „please open!“ holte sie vollends in die Realität.
Ein freundlicher Hotelbediensteter eröffnete ihnen unter steten Verbeugungen, dass das Management sehr besorgt sei, weil ihre Klimaanlage nicht funktioniere und deswegen umgehend repariert werden müsse. Ein Mitarbeiter in einem Overall mit Werkzeugkasten machte sich auch sogleich daran, nach dem Rechten zu sehen. Die schnatternde Kommunikation, die nun einsetzte, galt offensichtlich den Kissen, die die Klimaanlage lahmgelegt hatten. Sie wurden entfernt und die beiden zogen sich nach einer Serie freundlicher Bücklinge und einem strahlend gewünschten „Merry Christmas!“ zurück.
Den Rest des Tages verbrachten sie unter einem betörend wolkenlosen Himmel und in Ruhe am Strand, den sie diesmal überraschend störungsfrei mit Hilfe einer aus der Erinnerung gezeichneten Karte gefunden hatten.
Für den Abend war eine „Christmas Party“ am Pool angesagt, der sie mit gemischten Gefühlen entgegensahen.
Als es dunkel wurde, trafen die Hotelgäste nach und nach ein.
Auch die beiden Heimatflüchtlinge erreichten den Schauplatz mit kleiner Verspätung. Ein unvorhergesehener Umweg im Labyrinth der Hotelfluchten war die Ursache, aber sie hatten die Herausforderung souverän gemeistert und nun waren sie da. Gerade rechtzeitig, denn die Hotelleitung hatte offenbar gewartet, bis es dunkel genug war.
Mit einem Schlag wurde die Poollandschaft plötzlich in gleißendes Licht getaucht, tausende bunte Lämpchen erhellten die Szenerie mit einem zuckenden Stakkato greller Blitze, die schmerzende Reflexe auf der Netzhaut erzeugten. Dazu dröhnte im Rhythmus der Lichtorgel ein mörderisch gehämmertes „Jingle Bell“ aus den riesenhaften Lautsprechern, die am Rand der Terrasse aufgetürmt waren.
Die Entsetzensschreie der Gäste wurden vom Hotelmanagement vermutlich für frenetischen Beifall gehalten, doch der Höhepunkt sollte noch kommen.
Langsam und erst allmählich wahrgenommen – die Gäste hatten schließlich vollauf zu tun, die Augen und Ohren in Sicherheit zu bringen – wuchs aus der Mitte des Platzes, die sorgsam freigehalten worden war, ein riesiger Plastikweihnachtsbaum.
Im Takt weiterer infernalisch interpretierter Weihnachtslieder wurde er von einem Aggregat aufgeblasen und erreichte schließlich eine imposante Höhe.
Die Oberfläche des giftgrünen Plastikmonsters war von einem dichten Netz unzähliger glimmender und glitzernder Lämpchen überzogen, an der Spitze funkelte ein gewaltiger rosa Stern.
Der Ausruf des Entsetzens, mit dem die überrumpelten Gäste auf dieses Schauspiel reagierten, löste beim Hotelmanager offensichtlich Stolz aus. Er hielt eine Ansprache, die im allgemeinen Lärm zwar unverständlich blieb, aber mit einem zuletzt gebrüllten „Merry Christmas!“ seiner unbändigen Begeisterung Ausdruck verlieh.
Unter einem fulminanten Feuerwerk und einer Discoversion von „Stille Nacht“ eilten Kellner in roten Livreen und mit blinkenden Weihnachtsmannmützen herum und boten bunte Drinks an.
Fassungslos ergaben sich die Gäste dem furiosen Spektakel und suchten Zuflucht bei einem gigantischen Büffet, das vermutlich für die dreifache Zahl an Gästen gereicht hätte.
Nach einer Stunde hatten unsere beiden Urlauber genug und verließen mit hämmernden Kopfschmerzen das Fest.
Wie in Trance fanden sie ihr Zimmer.
Fleißige Hände hatten es inzwischen weihnachtlich dekoriert. Ein diabolisch grinsender Weihnachtsmann, der unablässig von einer Batterie angetrieben nickte und mit scheppernder Tonbandstimme „Merry Christmas!“ kreischte, offerierte eine riesige Schale mit den köstlichen Früchten der Region und einer Glückwunschkarte der Hotelleitung.
Voll bekleidet – wie froh waren sie nun über die warme Kleidung, in der sie die winterliche Heimat verlassen hatten – warfen sie sich aufs Bett, eng umschlungen und sich gegenseitig wärmend.
Am nächsten Morgen erhoben sie sich heiser und mit steifem Genick. Die Nacht war grauenhaft gewesen und sie hatten kein Auge zugemacht.
Den Tag verbrachten sie dösend in einem erschöpfungsähnlichen Zustand am Strand. Nicht allein übrigens, die meisten Liegebetten waren mit mehr oder weniger ermatteten Gästen besetzt.
Leider hatten sie die Wirkung der Sonne unterschätzt oder den vorsorglichen Hautschutz einfach verschlafen und sich einen veritablen Sonnenbrand geholt.
Am Abend wurde die Party fortgesetzt.
Entnervt rafften sie zusammen, was das Buffet – üppig wie immer – bot und ergriffen die Flucht, bevor die teuflische Band wieder loslegte. In einer abgelegenen dunklen Nische im Bauch des Hotels verzehrten sie schweigend ihre Beute.
Die Frage, wie sie die Nacht verbringen sollten, voll angekleidet oder gar nicht, löste eine depressive und gereizte Stimmung aus. Letztlich entschieden sie sich im Interesse ihrer glühenden Haut für die nächtliche Kühlung.
Es gelang ihnen tatsächlich zu schlafen.
An einen Strandaufenthalt war nun aber nicht mehr zu denken. Fürsorglich hatte ihnen das Hotelmanagement einen Arzt geschickt, der erwartungsgemäß bei beiden eine schwere Erkältung und einen Sonnenbrand diagnostizierte. Er verschrieb ihnen Medikamente und verordnete Bettruhe.
Als sie sich ergrimmt auf ihn stürzen wollten, ergriff der Mediziner die Flucht.
Der Mann wollte nun die Klimaanlage in Ermangelung eines Werkzeuges mit einem Sessel zertrümmern, wurde aber von seiner Frau daran gehindert. Sie schlug stattdessen vor, ihre Bleibe zu wechseln.
Auf ihren Irrwegen hatten sie auch die Personalquartiere entdeckt. Diese Räume, tief im Keller, waren keineswegs so komfortabel ausgestattet wie die Zimmer für die Gäste, dunkel, muffig und ohne Klimaanlage.
Gegen einen ansehnlichen Betrag brachten sie einen Angestellten dazu, ihnen für den Rest ihres Aufenthaltes seine stickige Bude zu überlassen.
Hier in den Katakomben des Hotels verbrachten sie die restlichen Tage unbehelligt von Weihnachtskitsch, Wahnsinnsmusik, frostigen Klimaanlagen und den Fürsorglichkeiten der Hotelleitung.
Sie verließen ihren Schutzraum nur zu den Mahlzeiten und zum Baden.
Allmählich heilte der Sonnenbrand, Husten und Schnupfen klangen ab und die verwundeten Seelen erholten sich.
Nach und nach freundeten sie sich mit dem Personal an, freundlichen und fleißigen Menschen, die sich zu einem Schandlohn für die Fremden abmühten.
Rascher als erwartet ging der Aufenthalt nun seinem Ende entgegen. Zuletzt waren ihnen doch noch einige erholsame Tage vergönnt.
Als sie das Flugzeug in der Heimat verließen, lag Schnee auf dem Land und vermittelte eine prächtige weihnachtlich-winterliche Stimmung.
Die nächsten Weihnachten, dessen waren sie sich gewiss, würden sie wieder zu Hause verbringen, in den Bergen auf einer einsamen, verschneiten Hütte – vielleicht.
Text: Udo Fellner
Foto: Lynda Hinton