Unlängst habe ich wieder meinen Freund – nennen wir ihn der Einfachheit halber Norbert – besucht.
Norbert ist Patient in einer speziellen Klinik zur Rehabilitation psychisch Erkrankter.
Ich weiß, früher habe ich das auch respektlos „Klapsmühle“ genannt, aber seit Norbert dort behandelt wird, habe ich Hemmungen.
Ich war furchtbar erschrocken, als ich Norbert das erstemal besuchte, ein zitterndes Bündel Mensch, mit flackerndem Blick und fahrigen Bewegungen. Ich konnte auch nicht mehr mit ihm sprechen. „Halleluja, halleluja!“ und „Oh, du fröhliche…!“ war das einzige, was er mehr flüsterte als sprach, begleitet von einem breiten, seligen Grinsen. Als ich mich schließlich ratlos verabschiedete, winkte er mich zu sich, zog meinen Kopf an seinen Mund und flüsterte mir folgende Worte ins Ohr: „Vorsicht! Christmas connection!“ Dann kicherte er und entließ mich.
Auf dem Weg nach Hause entschloss ich mich, einer traurigen aber notwendigen Pflicht nachzukommen und Norberts Geschichte zu erzählen.
Es begann vor einigen Jahren. Mein Freund lebte bis dahin ein ganz normales Leben, unberührt von Absonderlichkeiten oder außergewöhnlichen Ereignissen. Er hatte einen guten Arbeitsplatz, ein ausreichendes Einkommen, eine liebenswerte Frau, zwei wohlgeratene Kinder, ein Haus. Gerne verbrachte er seine Freizeit mit der Familie, man unternahm Reisen und sparte auch nicht an kulturellen und sportlichen Unternehmungen. Kurzum, Norbert bot das Bild eines rundum zufriedenen Menschen in harmonischen Umständen.
Es hätte immer so weiter gehen können, aber Norbert hatte neben all seiner Konzilianz und Verträglichkeit eine besondere Eigenschaft. Er war von einer Akkuratesse beseelt, die ihn antrieb, alles, was er tat, mit Umsicht und Genauigkeit, ja mit geradezu manischer Konsequenz zu erledigen. Das trug ihm gelegentlich Konflikte mit anderen, weniger ehrgeizigen Menschen seines Lebensumfeldes ein. Kollegen, Nachbarn, Verwandten war diese Seite durchaus bekannt und nicht gerade sympathisch. Auch in seiner Familie gab es diesbezüglich Unstimmigkeit, wenn seine Frau oder die Kinder ihre familiären „Verpflichtungen“ nicht so genau nahmen, wie er für notwendig hielt. Aber man richtete sich ein, weil man ihn und seine „Marotte“ kannte und Konfrontationen so gut man es vermochte aus dem Weg ging.
Es begann also wie gesagt vor einigen Jahren in den Wochen vor Weihnachten. Das halbe Land war unterwegs, um Einkäufe zu tätigen. In den Städten gab es das bekannte Geschiebe und Gehaste, um rechtzeitig und günstig zu besorgen, was man glaubte, schenken zu müssen. Wie in Trance bewegten sich die Menschen von einem Konsumtempel zum nächsten, unfähig, dem suggestiven Einfluss der Lichter, Gerüche und Geräusche zu widerstehen, der ihnen das Geld aus der Tasche zog. Die Auslagen mit ihren verführerisch glitzernden Angeboten zogen die Kaufwilligen magnetisch in ihren Bann, bunte Lichtreflexe huschten über die Fassaden und fügten sich zu weihnachtlichen Motiven, an allen Ecken und Enden fanden sich üppig dekorierte Christbäume, künstlich beschneit und elektrisch beleuchtet, umschwärmt von weißbärtigen Weihnachtsmännern oder goldlockigen Engeln, die Prospekte verteilten oder zum Eintritt in eines der Geschäfte animierten. Dazu verklebte süßliche Weihnachtsmusik die Ohren der Menschen und sorgte über Tage für eine nachhaltige Betäubung der Sinne. Über allem schwebte ein schwerer Dunst aus Alkohol, Zimt und Orangen, der die Einkaufenden zu den zahllosen Punschständen lockte, wo sie mit dem nötigen Rausch versorgt wurden, der ihnen die Einsicht in ihr Tun verwehrte.
Und mitten in diesem Wirbel, in diesem entfesselten Inferno der Geschmack- und Sinnlosigkeit, hielt Norbert plötzlich inne und war sich im Augenblick der ganzen Abgründigkeit dessen, was um ihn vorging, bewusst.
Niemand weiß, was da vorher passiert sein musste.
Alles, was dann geschah, lief mit der Präzision einer perfekten Planung ab.
Einige Sekunden lang zögerte er und schien zu überlegen, ob das, was er gleich tun würde, noch vermeidbar wäre. Dann aber holte er aus und schleuderte die Pakete, die er bei sich trug, mit Wucht gegen die nächste Auslagenscheibe, die krachend zerbarst. Mit lautem Geheul rannte er zur nächst gelegenen Punschhütte, sprang über die Theke, stieß den brodelnden Topf um, fegte ganze Batterien an Rum- und Schnapsflaschen zu Boden und entzündete den ausfließenden Fusel mit einer Laterne. Kreischend verließen Gäste und Verkäufer den auflodernden Stand und suchten entsetzt das Weite. Einen vorbeieilenden Weihnachtsmann packte er an seiner Kutte und schleuderte ihn zu Boden. Dort riss er ihm Bart und Perücke ab und ohrfeigte den jungen Burschen, der darunter zum Vorschein kam. Einen zu Hilfe eilenden Engel schlug er mit dem Sack des Weihnachtsmannes derart über den Kopf, dass der Inhalt scheppernd zerbrach. Dann warf er den Taumelnden auf den jungen Weihnachtsmann, brach ihm die Flügel vom Rücken und lief heftig mit ihnen in der Luft rudernd davon. Dazu sang er aus voller Kehle „Alle Jahre wieder…!“
Niemand hatte bis dahin eingegriffen. Die meisten Leute hatten sich abgewandt und waren vorbeigehastet. Einige Beherzte versuchten den brennenden Punschstand zu löschen, jemand rief laut nach der Polizei.
Inzwischen war Norbert, wie ich später erfuhr, in eines der großen Kaufhäuser eingedrungen und mit dem Lift in das oberste Stockwerk gefahren. Dort war ein Schlitten aufgebaut, voll beladen mit bunten Paketen. Auf dem Bock saß eine als Weihnachtsmann gekleidete Puppe, die im Takt des Schlagers „I´m dreaming of a white Christmas“ nickte und eine Peitsche schwang. Dahinter stand eine Christkindpuppe, klimperte einfältig lächelnd mit den Wimpern und klappte zwei Plastikflügel auf und zu. Vor dem Schlitten stampfte ein rotnasiges Rentier mit einem Huf und schnaubte sichtbar aus den Nüstern.
Mit einem lauten „Halleluja!“ stieß Norbert den dämlichen elektrischen Weihnachtsmann und seine kitschige Begleiterin vom Schlitten auf den mit Kunstschnee beschäumten Boden, wo sich die beiden zuckend weiterbewegten.
Dann schwang er sich auf das Rentier und grölte den Text zur Musik.
Den herbeigeeilten Abteilungsleiter bewarf Norbert mit den Paketen, worauf der geschockte Mann hinter dem Kassenpult in Deckung ging. Dort kauerte schon die verängstigte Kassierin und eine Kundin mit einem kleinen Jungen an der Hand. Der Abteilungsleiter bearbeitete nervös sein Handy und versuchte die jammernde Mitarbeiterin zu beruhigen.
Mittlerweile hatten sich einige Kinder unerschrocken um den Eindringling versammelt (das Ganze spielte sich in der Kinder- und Spielwarenabteilung ab) und eines, ein frecher Junge, warf ein Paket zurück. Im Nu entwickelte sich eine fröhliche Paketschlacht, an der sich auch die anderen Kinder vergnügt kreischend beteiligten.
Aufgeschreckt von dem Lärm fuhr die Managerin mit der Rolltreppe nach oben. Bevor sie noch recht wusste, was eigentlich vorging, wurde sie von einem Paket getroffen und zu Fall gebracht. Als sie das Ausmaß der Zerstörung erkannte – Norbert und die Kinder hatten ganze Arbeit geleistet und die Abteilung nachhaltig verwüstet – verfiel sie in einen Weinkrampf. Der Abteilungsleiter zog sie unter anhaltendem feindlichen Paketfeuer aus der Schusslinie und hinter das Verkaufspult. Dem nunmehr vereinigten dreistimmigen Schreckensgeheul entzog er sich durch einen kühnen Abgang über die Nottreppe.
Mittlerweile hatte sich das Personal im unteren Stockwerk gesammelt und unter den anfeuernden Befehlen des Abteilungsleiters wagten sich einige mutige Verkäufer nach oben. Norbert hatte inzwischen aber bereits die Flucht ergriffen und turnte an dem mächtigen Weihnachtsbaum, der bis ins oberste Stockwerk des Kaufhauses ragte, nach unten. Dabei riss er die riesigen Glaskugeln von den Zweigen und bewarf die Kunden. Bei seinen Bemühungen, sich festzuhalten blieb es nicht aus, dass er die Kabel der Lichterketten zerriss. Sie stürzten mit einem Funkenregen in die Halle und verursachten einen Kurzschluss. Schlagartig versank das Kaufhaus in Dunkelheit und sekundenlang in wohltuende Stille. Dann aber brach ein gewaltiger Lärm aus. Hysterische Schreie und das Splittern von Glas und Holz erfüllten den riesigen Raum, dazu das hektische Getrappel hunderter Füße, die alle dem vagen Lichtschein zustrebten, der von draußen durch den gläsernen Eingang drang. Mit den panisch Flüchtenden erreichte auch Norbert das Freie, wo er unerkannt untertauchte.
Die Polizei fahndete bereits nach einem Verrückten mit einer Weihnachtsmannmütze, der die Stadt ins Chaos stürzte. Noch war niemand zu Schaden gekommen und man war bestrebt, den offensichtlichen Amokläufer zu fassen, bevor es dazu kommen konnte. Überall fanden sich Uniformierte, die ihren Funkgeräten lauschten und eifrig Ausschau hielten. Laufend wurden Vorfälle gemeldet, in die Weihnachtsmänner als Opfer oder Täter verwickelt waren. Norbert schien an allen Ecken und Enden der Stadt gleichzeitig am Werk zu sein. Auch der Polizei war schließlich klar, dass bereits Nachfolgetäter zugange waren. Über Lautsprecher wurde die Bevölkerung vor einem gefährlichen Irren gewarnt, Kaufhäuser und Banken schlossen daraufhin bedauernd ihre Pforten, Rettungsfahrzeuge fuhren vorsorglich aus und bezogen an belebten Plätzen Stellung. Und als das Gerücht ging, dass eine Gruppe psychisch Kranker aus der geschlossenen Abteilung ausgebrochen wäre, erwog der Bürgermeister kurzzeitig den Einsatz von Militär, um einen drohenden Aufstand bereits im Keim zu ersticken.
Zu diesem Zeitpunkt bestand aber keine Gefahr mehr. Norbert war nach seinem spektakulären Auftritt im Kaufhaus ziellos durch die Stadt gestreift. Irgendwo hatte er einen Obdachlosen getroffen, der in einer verlassenen Einkaufspassage vor sich hindämmerte und wirres Zeug stammelte. Norbert schenkte ihm seine erbeutete Weihnachtsmannmütze mit dem blinkenden Stern, und wirklich sah der Stadtstreicher mit seinem struppigen grauen Bart wie der Weihnachtsmann aus. Norbert schleppte den Widerstrebenden zu einer der offensichtlich in Panik verlassenen Punschhütten und schenkte sich und seinem Gefährten ein. Dem schien es zu schmecken und bald waren die beiden sternhagelvoll. Eng umschlungen diskutierten sie lautstark über die Schlechtigkeit der Welt und die Erbärmlichkeit ihres Daseins. Dazwischen grölten sie immer wieder Weihnachtslieder, wobei sie die Texte zotig verfremdeten.
So wurden sie schließlich von der Polizei aufgegriffen und zur Ausnüchterung in eine Zelle gesteckt.
Nachdem Norbert von mehreren Zeugen als der verrückte Amokläufer identifiziert worden war, wurde er zur Beobachtung in das psychiatrische Krankenhaus der Stadt gebracht.
Dort behauptete er, er wäre der wahre Weihnachtsmann und sei mit dem Auftrag hergeschickt worden, die falsche Konkurrenz zu beseitigen. Allen Einwendungen zum Trotz blieb er starrsinnig dabei und zeigte sich gegen alle Therapierungsversuche resistent. Auch seine Frau und die Kinder verleugnete er hartnäckig und so blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als ihn im Krankenhaus bis auf weiteres stationär zu behalten.
Norbert ist im Allgemeinen ein umgänglicher Patient. Nur vor Weihnachten bemächtigt sich seiner eine Unruhe, die in eine Wut umschlagen kann, die die Wärter in Alarmbereitschaft versetzt. Dann singt, nein brüllt er stundenlang Weihnachtslieder mit unanständigen Texten und kritzelt Weihnachtsmänner und Engel in pornografischen Stellungen an die Wände. Meistens dämpft man ihn mit Medikamenten, bis er nur mehr leise summt. Die ratlose Diagnose der Mediziner: „Weihnachtsphobie“
Ich besuche Norbert deshalb immer erst nach Weihnachten, wenn er wieder ansprechbar ist. Dann reden wir über die Zukunft und eine gemeinsame Reise …
… zu den Osterinseln.
Text: Udo Fellner
Foto: Marina Khrapova