Familie Reiter ist beunruhigt. Nicht eigentlich beunruhigt, sondern eher in einem erwartungsvollen Schwebezustand, der von Tag zu Tag mehr in ängstliche Angespanntheit übergeht.
Weihnachten rückt mit unerbittlicher Nachdrücklichkeit näher und damit all das, was dieses Fest an unangenehmen Begleiterscheinungen zu bieten hat. Die Besonderheit des Ereignisses erfordert sorgfältige Planung und Organisation, soll es nicht misslingen.
Dieser Umstand steht freilich in krassem Gegensatz zur allseits erwarteten Leichtigkeit. Mit gnadenloser Eindringlichkeit werden da „Fröhliche Weihnachten“ und ein „Frohes Fest“ gewünscht, als ob in diesen hektischen Tagen irgendjemand Anlass zu Frohsinn hätte!
Von allen möglichen Zeitgenossen werden gedankenlos „besinnliche Stunden“ eingemahnt und holde „Familienseligkeit“ beschworen, als ginge es um die Rettung des Abendlandes in wenigen Tagen.
Im Wechselbad von schlechtem Gewissen und Erwartungsdruck taumeln wir durch diese Wochen, mobilisieren alle Kräfte, um unsere Lieben, die Geschäftsleute und den Finanzminister nicht zu enttäuschen und brechen unter dem Christbaum endlich entweder in Schreikrämpfe aus oder unter der Stressbelastung nieder.
Wieder eine Schneise mehr in unserer strapazierten Gefühlslandschaft.
Das alles weiß auch die Familie Reiter und sucht – wie jedes Jahr – nach Auswegen. Familie Reiter könnte auch Huber, Zawrazil oder Sampl heißen. Diesem Trauma scheint niemand mehr zu entkommen.
Familie Reiter also sucht mit wachsender Verzweiflung eine Lösung ihres Problems, als der Druck mangels zündender Ideen steigt.
Herr Reiter, beruflich an planerisches Denken gewöhnt, stellt vorerst eine nüchterne Analyse an, welche folgende Punkte umfasst:
1. In 4 Wochen ist Weihnachten
2. Im Vorjahr haben wir leichtsinnigerweise unsere Eltern eingeladen. (Die Wörter „wir“ und „leichtsinnigerweise“ muss Herr Reiter nach einer empörten Intervention von Frau Reiter zurücknehmen, die ihn daran erinnert, dass die Einladungen auf eine rühr- und weinselige Initiative seinerseits zurückgehen)
3. Wir haben keinen Schimmer, was wir schenken sollen.
4. Wir haben keine Zeit darüber nachzudenken.
5. Hilfe!!!
Herr Reiter beendet seine ernüchternde Analyse mit dem Ablegen eines heiligen Eides, dass dies seine unwiderruflich letzten Weihnachten zu Hause und im Kreise der Großfamilie sein würden und beklagt seine Gutmütigkeit, die ihn bis jetzt daran gehindert habe, dieses Vorhaben zu verwirklichen. Er bedauert heftigst, sich an eine Familie gekettet zu haben, der starrsinniges Festhalten an inhaltsleeren Traditionen wichtiger sei als die eigenen Bedürfnisse und stellt bockig Verweigerung auf der ganzen Linie in Aussicht, sollte man seinen Vorstellungen nicht folgen wollen.
Der aufkeimenden Revolte schließen sich auch die beiden halbwüchsigen Kinder der Familie an. Der Junge, weil er diverse Familienfeste ohnehin urfad findet und überdies sein Zimmer zur Verfügung stellen müsste, was lästiges Aufräumen und umständliches Übersiedeln in das mütterliche Arbeitszimmer bedeuten würde, sowie den Verzicht auf nächtliche Computerabenteuer. Außerdem erfordert die Anwesenheit der Großeltern freundliche Teilnahme an öden Kaffeerunden und stinklangweiligen Gesprächen über die gute alte Zeit.
Die Tochter wiederum, zur Zeit arg gebeutelt von hormonellen Stürmen, sieht sich um heiße Weihnachtsfeten mit ihren Freunden gebracht und statt dessen zum „geriatrischen Betreuungseinsatz“ abkommandiert. Die Aussicht auf „megabeschissene“ Weihnachten kreidet sie den Eltern als „Anschlag auf ihre Souveränität und Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit“ an und droht mit passivem Widerstand sowie Einfrieren aller verwandtschaftlichen Beziehungen auf den Nullpunkt.
Konfrontiert mit dieser geschlossenen familiären Front, ziehen in Frau Reiters Kopf im Sekundenbruchteil Bilder einer erschreckenden Zukunftsvision vorbei.
Unter dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum sieht sie die steinernen Mienen ihrer Lieben, die verstörten Gesichter der Eltern, lieblos verpackte und überreichte Geschenke, sich selbst rastlos hin- und herpendelnd, vermittelnd und bemüht, Gespräche in Gang zu halten oder anzuregen, zu schlichten und zu glätten und dazu den weihnachtlichen Haushalt und seine Anforderungen zu bewältigen. Sie sieht sich schließlich erschöpft unter dieser Last zusammenbrechen
und …
… in diesem Augenblick schreit Frau Reiter. Sie schreit wie jemand, der, an die Wand gedrückt, keine andere Möglichkeit sieht, als sich noch einmal verzweifelt Luft zu machen und das Übermaß seines Schmerzes kund zu tun. Sie schreit mit einer Intensität und Ausdauer, die stärker ist, als all die Einwände und kleinlichen Wehleidigkeiten ihrer Familie.
Besorgt über das, was sie möglicherweise angerichtet haben, versuchen Gatte und Kinder sie zu beruhigen: Irgendwie werde man sich schon arrangieren, natürlich würde man zusammenhelfen. Das sei doch kein Grund auszurasten, es gäbe wirklich Schlimmeres als Verwandtenbesuche und natürlich könne Weihnachten auch sehr schön sein, einmal im Jahr sei Familie ja durchaus erträglich und schließlich müsse ja nicht alles perfekt sein. Man könne sich die Arbeit ja ein- und aufteilen, so könnten alle zur Stressminimierung beitragen.
Von allen Seiten gestreichelt und besänftigt, geht Frau Reiters Schreien allmählich in ein Schluchzen über, welches zuletzt alle Mitleidsschleusen der Aufrührer öffnet und zu Einigkeitsschwüren und dem reumütigen Verzicht auf alle Forderungen führt.
Vom warmen Gefühl einer geradezu weihnachtlich friedlichen Woge des Gemeinsinns getragen, beschließt man dem kommenden Fest nun gefasst entgegenzusehen.
Die Frage der Geschenke wird nach kurzer Diskussion geklärt, der Vorschlag von Reiter junior mangels eigener und besserer Ideen einstimmig angenommen. Die Großväter werden mit Krawatten bedacht, die Großmütter mit Seidentüchern. Dem Einwand von Frau Reiter, dass dies schon die dritte weihnachtliche Krawatte in Folge sei, entgegnet der Junge trocken, die Beschenkten wüssten das ohnehin nicht mehr. Dass er sich dabei vielsagend an die Stirn tippt um seine Aussage unmissverständlich zu interpretieren, trägt ihm einen missbilligenden Blick und einen scharfen Verweis der Mutter ein. Um wenigstens zu vermeiden, dass Farbe und Muster der Krawatten und Tücher sich peinlicherweise wiederholen, wird die Tochter beauftragt, bei nächster Gelegenheit den großelterlichen Krawatten- und Tücherbestand auszuspionieren. Frau Reiters Sorge, diese Geschenke würden ein wenig mickrig ausfallen, entkräftet ihr Mann mit dem Verweis, dass es beim Schenken ja wohl nicht um den materiellen Wert ginge. Und schließlich sei die Vase, die Frau Reiter im Vorjahr von ihren Eltern bekommen habe, so potthässlich, dass sie selbst …
Dieser Einwand überzeugt Frau Reiter und man beschließt, den fragilen Weihnachtsfrieden mit einem gerahmten Familienfoto aus der Digitalkamera als Zusatzgeschenk zu sichern.
Zufrieden mit der gefundenen Lösung, erklären sich Mutter und Tochter Reiter zum Kauf der Seidentücher bereit, während Herr Reiter sich fachmännisch um die Krawatten kümmern will. Dem Sohn wird die Anfertigung des Familienfotos anvertraut.
Schwieriger wird es, als es ums Festmenu geht. Herr Reiter ist fest entschlossen, diesmal keine Kompromisse einzugehen. Er weiß zwar um die Vorliebe der Eltern für Ente, aber diesmal wird er auf einem Weihnachtskarpfen bestehen. „Weihnachten ohne Weihnachtskarpfen ist wie Ostern ohne Osterhase“, versucht er von vorneherein jeden Widerspruch zu entkräften. „Whaaa!“, Reiter junior würgt es, „wie kann man nur so eine glitschige Kacke essen! Ist ja eklig!“
Und Frau Reiter: „Kommt nicht in Frage! Kein Karpfen! Nicht in meiner Küche!“. Töchterchen sekundiert empört: „Du Mörder! Was hat dir der arme Karpfen getan? Und das zu Weihnachten!“ Sie ist gerade mit ihrer Clique in einer vegetarischen Phase und hasst nicht nur Fleisch in jeder Variation, sondern auch alle, die es essen. Herrn Reiters Verweis auf die entenverzehrenden Großeltern, tut sie mit einem verächtlichen und finalen „Ihr seid eben eine Mörderfamilie!“ ab.
Nun ist es an Herrn Reiter, die bis dahin sorgsam im Zaum gehaltene Geduld zu verlieren. Er sei mit einer Familie von kulturlosen Ignoranten geschlagen, die keinen Sinn für Tradition und jeden Respekt vor jahrhundertealtem Brauchtum verloren hätten. Der eisige Blick seiner Gattin erinnert ihn indessen schlagartig an den Anlass zum schwelenden Familienkonflikt und der pure Hohn, der aus ihren Worten trieft, lässt ihn augenblicklich verstummen.
„Hat da vorhin nicht jemand das starrsinnige Festhalten an Traditionen beklagt ?“
„Na gut“, gibt er sich geschlagen, „Karpfen sind meistens ohnehin zu fett. Ente ist sicher bekömmlicher.“
Nun hat er auch keine Einwände gegen Juniors Hot dogs und Töchterchens Sojalaibchen auf Algen. Er fühlt sich plötzlich sehr müde und wehrt sich auch nicht gegen den Auftrag den Christbaum zu besorgen.
In der Nacht hat Herr Reiter einen Alptraum. Auf einem herrlichen, von Palmen gesäumten Strand wiegen sich leicht geschürzte Mädchen verlockend zu einschmeichelnder Musik. Lachende Menschen tummeln sich im türkisgrünen Wasser der Bucht oder genießen exotische Drinks an endlosen Strandbars. Auf bequemen Liegen und in sanft schaukelnden Hängematten dösen andere braun gebrannt einem aufregenden nächtlichen Abenteuer entgegen, während sie von einem lächerlichen, schwitzenden Kerl im Weihnachtsmannkostüm beobachtet werden, der an eine Palme gefesselt ist. Entsetzt erkennt sich Herr Reiter in dem Weihnachtsmann wieder. Eine verführerische Schöne im knappen Bikini, die große Ähnlichkeit mit seiner Frau hat, steckt ihm einen zappelnden Karpfen unter die Jacke, während ihm ein junger Bursche mit höhnischem Lächeln mehrere grellbunte Krawatten um den Hals schlingt.
Als er zu einem Schrei ansetzt um dem Traum zu entfliehen, stopft ihm ein Mädchen, das seiner Tochter verblüffend ähnelt, den offenen Mund mit einem ekligen Knäuel Algen. Daneben hüpfen wie verrückt zwei ältere Paare in Strandkleidung und krähen vergnügt „Fröhliche Weihnachten! Fröhliche Weihnachten!“
Schweißgebadet fährt Herr Reiter hoch und stellt erleichtert fest, dass er zu Hause in der Sicherheit seines Schlafzimmers ist, an der Seite seiner Frau.
Am Abend des nächsten Tages überrascht der Junior die Familie mit einem E-Mail. Er ist der Computerfreak der Familie und stellt Gott-weiß-was mit dem Ding an in den langen Nächten, in denen er innige Zwiesprache mit dem Kasten hält.
Mit einem Grinsen hält er Herrn Reiter den Ausdruck einer Nachricht hin.
„Von den Oldies“, kommentiert er lapidar und anerkennend „cool!“
Frau Reiter rückt näher und auch die Tochter gibt sich mäßig interessiert. Herr Reiter überfliegt das Schreiben und plötzlich bricht er in ein unbändiges Lachen aus.
„Gerettet!“, ruft er, „wir sind gerettet!“
Seine Frau nimmt ihm das Blatt aus der Hand und liest, von Zeile zu Zeile mehr erheitert, laut vor:
„Lieber Sohn! Wir verbringen die heurigen Weihnachten gemeinsam mit deinen Schwiegereltern auf Jamaica. Die Sonne und das Meer tun unseren alten Knochen gut. Ich finde, wir haben uns das verdient und ihr könnt einmal Weihnachten ohne uns verbringen. Ich hoffe, ihr seid uns nicht böse.
Frohe Weihnachten und liebe Grüße an alle – deine Eltern.“
Text & Illustration: Udo Fellner
Foto: Erwan Hesry