An manche Bräuche meiner Kindheit habe ich noch eine lebhafte Erinnerung, anderes hingegen ist verblasst oder vergessen.

Weihnachten war aber immer etwas Besonderes. Es ragte aus der Kargheit der Nachkriegszeit mit ihren auch für uns Kinder noch spürbaren Einschränkungen merklich heraus. Geschenke, Süßigkeiten und andere Aufmerksamkeiten hatten noch den Charakter des Außergewöhnlichen und wurden heiß erwartet.
Dazu gehörte auch das festliche Weihnachtsessen und die Weihnachtsbäckerei, deren Schmack- und Nahrhaftigkeit, Vielfalt und Kunstfertigkeit die hausfraulichen Qualitäten eindrucksvoll unter Beweis zu stellen hatten.
Während am Heiligen Abend selbst bei uns höchst bescheiden gegessen wurde, vorwiegend Frankfurter Würstl, gab es an den beiden Weihnachtsfeiertagen Fleisch. Fleisch war damals keineswegs selbstverständlich und kam nur am Sonntag und zu besonderen Anlässen auf den Tisch. Das lag einerseits an den beengten finanziellen Möglichkeiten der Familie – der Vater war zwischendurch immer wieder arbeitslos – andererseits aber auch an der Schwierigkeit, Lebensmittel und besonders Fleisch dauerhaft aufzubewahren. Gefrierschränke gab es nicht und wir hatten auch keinen der noch sehr teuren Kühlschränke. Da wir überdies in einer kleinen Wohnung lebten, stand uns nur ein kleiner Kellerverschlag zur Verfügung, der mit Holz und Kohlen vollgeräumt, dunkel und staubig war.
Fleisch musste also kurz vor der Zubereitung frisch gekauft und alsbald verarbeitet werden. Das schränkte die kulinarischen Möglichkeiten natürlich sehr ein.
Verständlich also die Freude meiner Eltern, als ihnen von einem Arbeitskollegen meines Vaters, der eine kleine Landwirtschaft betrieb und uns hin und wieder Kartoffeln und Brennholz verkaufte, ein Huhn geschenkt wurde. Ein Huhn, noch dazu eines, das nichts gekostet hatte, war eine willkommene Abwechslung und versprach ein besonderes Festmenu.
Es war ein lebendes Huhn, das einige Wochen vor Weihnachten ins Haus kam und bis dahin gefüttert werden musste. Kein Problem für meinen Vater, der im kleinen Kellerabteil mit einer umgedrehten Kartoffelkiste einen behelfsmäßigen Käfig herrichtete, unter dem das arme Huhn seiner traurigen Bestimmung entgegensehen musste. Manchmal durfte ich es mit Maisschrot füttern, den der freundliche Geber ebenfalls mitgeliefert hatte. Meine anfänglich täglichen Besuche im Keller stellte ich indessen bald ein, da mir das gefangene Huhn, das still und offensichtlich in sein Schicksal ergeben in seinem engen, finsteren Verlies ausharrte, schrecklich Leid tat. Auch meine Eltern schienen davon berührt zu sein, denn je näher das Fest und damit der letzte Tag für das Huhn heranrückte, desto schwerer fiel auch ihnen der Gang in den Keller. Meine Mutter weigerte sich schließlich überhaupt und wollte auch nicht mehr darüber reden. Irgendwie bewegte uns das traurige Los des armen Tieres und die Rolle als Vollstrecker seines grausamen Geschicks wurde uns von Mal zu Mal unangenehmer.
Dann kam der Tag, an dem unser Huhn, denn mittlerweile schien es bereits ein Familienmitglied geworden zu sein, geschlachtet werden sollte. Dieses Geschäft fiel meinem Vater zu, meine Mutter sollte das Huhn rupfen und ausnehmen. Als er mit dem extra scharf geschliffenen Messer die Treppe hinab in den Keller stieg, herrschte Begräbnisstimmung. Die Mutter hatte bereits Wasser aufgesetzt und bereitete sich bedrückt und mürrisch auf ihre Aufgabe vor.
Das Huhn schien sich wohl mächtig zur Wehr gesetzt zu haben, denn mein Vater kam nicht mehr zurück, obwohl er anfangs noch behauptet hatte, die Angelegenheit rasch zu erledigen. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis der Vater zurückkehrte – mit leeren Händen.
Er habe es nicht übers Herz gebracht, dem Huhn die Kehle durchzuschneiden, erklärte er; er könne das nicht. Meine Mutter, die in ihrer geradlinigen Art Ausreden nicht ausstehen konnte, sagte nichts dazu. Wir saßen still um den Tisch und jeder schien merkwürdig erleichtert zu sein, obwohl mit dieser Wendung die Aussicht auf ein besonderes Festessen schlagartig geschwunden war.
Ich weiß nicht mehr, was mit dem Huhn geschehen ist, von uns wurde es jedenfalls nicht verspeist. Möge es seine Tage woanders glücklich beschlossen und danach im Hühnerhimmel Fürsprache für uns wegen der später noch so zahlreich verzehrten Artgenossen eingelegt haben.
Seltsamerweise weiß ich auch nicht mehr, was meine Mutter an jenem Weihnachtstag gekocht hat. Es wird wohl schwierig gewesen sein, kurzfristig für anständigen und preiswerten Ersatz zu sorgen. Dennoch, wir waren zufrieden, das Weihnachtsfest nicht mit dem „Mord“ an einem unschuldigen Huhn entweiht zu haben.
Als mein Vater im darauffolgenden Jahr vor Weihnachten merkwürdige Vorkehrungen traf und im Keller mit der verzinkten Wanne rumorte, in der meine Mutter die Wäsche wusch, stellte sie ihn misstrauisch zur Rede.
Diesmal würde es ein wirklich außergewöhnliches Weihnachtsessen werden, gab er zu verstehen. Diesmal sollte es ein Karpfen sein, den ein Bekannter kürzlich gefangen und ihm angeboten hatte, und dafür brauche er für ein paar Tage die Wanne, damit der Fisch bis zur Schlachtung überleben könne.
Ich kann mich nicht mehr an alle Unfreundlichkeiten erinnern, die meine Mutter für meinen Vater übrig hatte, doch sie gipfelten alle in dem entscheidenden Befehl: „Karpfen?! Kommt nicht in Frage!“
Dabei blieb es und auch unser Kellerabteil wurde nie mehr als Tiergefängnis zweckentfremdet.
Mit der alsbald einsetzenden Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse stieg allmählich der Fleischkonsum und das Interesse am Weihnachtsfest verlagerte sich vom Inhalt der Töpfe und Pfannen mehr auf den Inhalt der Pakete unter dem Christbaum.
Weihnachten hatte endlich seine wahre Bestimmung gefunden.

Text: Udo Fellner
Foto: Jan Baborák

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