Schon seit frühester Kindheit ist Wendler von den Sternen fasziniert. Die anfangs naive Bewunderung beim Blick in den nächtlichen Himmel vertiefte sich zur Begeisterung, als ihm sein Onkel, ein ausgesprochener Naturliebhaber und Vogelkenner, beim Eintritt ins Gymnasium ein Teleskop schenkte; nichts Besonderes, aber für Wendler ein Wunderwerk. Aber nicht der Beobachtung heimischer Vögel, wie sein Onkel beabsichtigt hatte, sondern dem Sternenhimmel galt Wendlers Interesse.
In der Anordnung und unterschiedlichen Helligkeit der Sterne suchte und erkannte er fantastische Figuren und beobachtete ihre unterschiedliche Position im Jahreslauf. Mit Hilfe von Sternkarten lernte er sie zu unterscheiden, ihre Bezeichnungen und die Namen der helleren Leitsterne. Er lieh sich Bücher dazu, las über ihre Entstehung, die Entfernung zur Erde und erfuhr verwundert, dass sie man sie sogar noch sehen konnte, wenn sie bereits „gestorben“ waren.
Es war eine Welt so ganz nach Wendlers Sinn, still, geheimnisvoll, fantastisch und unnahbar. Oft ging er nachts in einen nahegelegenen Park, um bei schönem Wetter und wolkenlosem Himmel die schweigende Pracht über sich zu betrachten. Hier am Stadtrand gab es noch unbeleuchtete Plätze, an denen man die Sterne beobachten konnte, obwohl die Lichtkuppel über der Stadt keinen ungetrübten Blick in den Himmel gestattete.
Die beste Sicht hatte er noch vom Dachbodenfenster seines Wohnhauses. Der Hausmeister, der sein Hobby kannte, hatte ihm einen Schlüssel zum Dachboden besorgt und dort hatte Wendler sein Teleskop aufgebaut. Wann immer es die Umstände zuließen, verbrachte er seine Zeit mit dem Studium der Sterne und während die gleichaltrigen Kameraden an Partys und ersten Liebesabenteuern Genüge fanden, vertiefte Wendler sein Wissen über den Kosmos.
Bald tat es das einfache Teleskop mit der maximal 150-fachen Vergrößerungsleistung nicht mehr und Wendler sparte auf ein leistungsstärkeres. Er bewarb sich um die Mitgliedschaft in einem Verein von Hobbyastronomen und besuchte regelmäßig die private Sternwarte des Obmannes und das Planetarium.
Nach der Matura und seinem vorzeitig abgebrochenen Studium der Germanistik erlahmte allerdings sein Interesse an den Sternen und nach einem kurzen Abgleiten ins Esoterische und die Niederungen der Astrologie, verkaufte er sein Equipment und wandte sich irdischeren Angelegenheiten zu.
Doch die Faszination des gestirnten Firmaments blieb ihm, wenngleich nur mehr als kenntnisreichem Betrachter und in sentimentalen Momenten, wenn ihm das Fehlen eines Fix- und Angelpunktes in seinem Leben wehmütig bewusst wurde.

Als Greta in sein Leben trat, verlor er die Sterne vorübergehend aus den Augen und auch wenn sie ihm in schlaflosen Nächten ihre Pracht verschwenderisch vorführten, waren sie ihm nur festlich glitzernde Leuchtkörper, schön und verführerisch zwar, aber auch kalt und abweisend. Greta wusste nichts von seiner frühen Leidenschaft und hatte selbst kein Interesse an ihnen. Sie kannte außer dem Großen Wagen kein Sternbild und vergaß sofort wieder, wie man den Polarstern finden konnte, obwohl man es ihr schon mehrmals erklärt hatte. Sie nahm ihre Fülle allenfalls als gewaltiges leuchtendes Netz wahr, das sich über den nächtlichen Himmel spannte, empfand sie auch durchaus als schönes Naturschauspiel, wie man auch die Berge, die Wüste oder das Meer schön finden kann, ohne jemals dort gewesen zu sein, maß ihnen aber keine tiefere Bedeutung bei.
Während ihrer verunglückten Kreuzfahrt hatte Wendler wieder seine alte Liebe zu den Sternen entdeckt. In den dunklen Nächten auf dem einsamen Schiffsdeck, wohin es ihn zog, wenn er nicht schlafen konnte, feierte er ein stilles Wiedersehen mit ihnen, begrüßte sie wie alte Freunde, die sich nach längerer Abwesenheit zurückgemeldet hatten und freute sich, dass er nichts vergessen hatte.
Bei ihrem letzten Sommerurlaub in den Bergen – Wandern war mittlerweile eines ihrer liebsten gemeinsamen Freizeitvergnügen – genossen sie den malerischen Sonnenuntergang auf einer Wiese nahe der Hütte inmitten würzig duftender Alpenblumen und Kräuter. Sie sprachen nicht viel und beobachteten nur verzaubert, wie der Tag schwand und der Nacht Platz machte. Bald zeigten sich die ersten Sterne und als der Himmel sich schließlich tintenschwarz über den Gipfeln wölbte, strahlten darauf unzählige Lichtpünktchen wie in einem fein gesponnenen Geflecht. Das war so unbeschreiblich schön, dass auch Greta bei diesem Anblick ganz feierlich zu Mute wurde und seufzend meinte, wie schön es wäre, wüsste man, wie all diese prächtigen Sterne hießen.
Da war es nun an Wendler, sein Wissen auszupacken, um den Wunsch seiner Liebsten zu erfüllen.
Zuerst zeigte er ihr den Großen Wagen, den sie schon kannte und dann, wie sie den Polarstern durch die Verlängerung der hinteren Achse anpeilen konnte.
„Siehst du die Sternenkette, die sich in einem weiten Bogen um den Kleinen Wagen schlingt und in einem Kopf mit zwei hellen Sternen endet? Das ist das Sternbild des Drachen und sein hellster Stern, der Etamin ist sein Auge. Und dort, gleich daneben siehst du den Herkules, der mit ausgestrecktem Arm einen Pfeil auf den Schwan schießt und gleich daneben Corona, die nördliche Krone mit Gemma, ihrem hellsten Stern.“
Wendler wies auf die Figur am westlichen Himmel, die mit weit ausgebreiteten Schwingen inmitten eines zarten Schleiers majestätisch Richtung Norden zu segeln schien.
Fasziniert folgte Greta seinem richtungweisenden Finger und war glücklich, dass sie entdeckte, worauf er zeigte.
„Und der weiße Schleier?“, fragte sie.
„Das ist die Milchstraße. Sieh nur wie sie sich in einem mächtigen Bogen über den Himmel zieht! Es sieht tatsächlich aus, als ob jemand Milch verschüttet hätte. Wenn du jetzt dem Polarstern nach Westen folgst, kannst du am Rand der Milchstraße eine Sternengruppe sehen, die ein großes W bildet, das Himmels-W. Das ist Cassiopeia und dahinter am Rand des Horizonts liegt Andromeda“, 2,5 Millionen Lichtjahre entfernt und das äußerste Sternbild, das man noch mit freiem Auge sehen kann.
Lange verharrten sie in ehrfürchtigem Schweigen, bis es Wendler unterbrach: „Der Philosoph Kant war beim Blick in den nächtlichen Himmel so beeindruckt, dass er gesagt haben soll, zwei Dinge würden sein Gemüt mit Ehrfurcht und Bewunderung erfüllen: der Sternenhimmel und das demokratische Gesetz in ihm.“
Sie hatten sich mittlerweile auf den Rücken gelegt, um das glitzernde Schauspiel besser betrachten zu können. Greta war ganz still geworden und schaute mit glänzenden Augen auf die Pracht über ihr. Sie hatten sich an den Händen gefasst, waren selig und einander ganz nah.

In diese Stille hinein sagte sie plötzlich ganz leise und schmiegte sich dabei zärtlich an Wendler: „Vielleicht könnten wir unser Kind nach einem der Sterne benennen.“ Wendler erstarrte und blickte Greta mit großen Augen an. „Was…?“, stammelte er, „du meinst …?“
„Na ja“, sagte sie ernst, „du wirst Vater. Ich bin schwanger.“
Es dauerte eine Weile, bis Wendler die Nachricht in ihrer vollen Tragweite erfasst hatte, doch dann bemächtigte sich seiner ein Glücksgefühl, wie er es noch nie gespürt hatte. Er umarmte Greta, küsste und herzte sie und meinte vor Seligkeit vergehen zu müssen.

Die Sterne sahen indessen unbeteiligt und kalt auf die beiden Liebenden herab, nur Etamin, Dracos helles Auge schien zu zwinkern. Vielleicht bildete sich Wendler das aber auch nur ein. Vermutlich war es nur eine Sternschnuppe, die kurz aufglomm und gleich wieder erlosch. Seit wann kümmern sich Sterne auch um das Schicksal der Menschen?

Text: Udo Fellner
Foto: Ryan Hutton

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