Menschen umgeben sich gerne mit Dingen, die ihre Sinne mit Wohlgefallen aufnehmen. Sie hören Musik, die sie erfreut, sie lesen Bücher, die ihren Blick auf die Welt erweitern oder sie mit einer stillen Sehnsucht nach dem eigentlich Unerreichbaren erfüllen. Sie besuchen Theateraufführungen und Konzerte, die ihr Verlangen nach beeindruckenden künstlerischen Erfahrungen befriedigen sollen und Museen, die mit kostbaren Raritäten aufwarten können. Und sie lieben und umgeben sich mit Menschen, die sie auch optisch bezaubern oder sehen sie wenigstens gerne an.
Menschen sind also für Schönheit empfänglich, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was ihr Urteil rechtfertigt, dass es sich bei den Objekten ihrer Bewunderung wirklich um Schönheit handelt.
In diesem Dilemma steckt auch Wendler. Als Mensch mit guter Bildung fühlt er sich verpflichtet, sein Tun und Trachten, seine Neigungen und Absichten, ja sein ganzes Leben dem Umgang mit Schönheit zu widmen. Es ist eine Herkulesaufgabe, die er sich vorgenommen hat, gewiss, und bedeutendere Menschen als er sind daran schon gescheitert. Das Problem beginnt bereits bei der Definition und der Zuständigkeit der Institution, die sie formuliert. Da es kein Gesetz gibt, das zuverlässig vorgibt, was denn nun schön sei oder wie Schönheit zu sein habe und allenfalls sanktioniert, wenn es übertreten wird, stehen der individuellen und meist wenig überzeugenden Interpretation Tür und Tor offen.
Die triviale Aussage, die Schönheit entstehe im Auge des Betrachters mag zwar manchen als Ausweg aus dem Dilemma dienlich sein, doch befriedigend ist sie nicht. Und auch wenn es seit den alten Römern heißt „de gustibus non est disputandum“, dass man also über Geschmack nicht streiten könne, so ist natürlich auch das Gegenteil wahr, wie simple Alltagsdispute beweisen. Berücksichtigt man die unterschiedliche Ausgangslage, etwa bei Bildung, Sensibilität oder Beruf, kann es nur unterschiedliche Einschätzungen geben.
Wendler will Klarheit und hält sich daher lieber an Autoritäten, zum Beispiel der Philosophie, die sich seit der Antike damit beschäftigen, dem schwer zu fassenden Begriff eine verbindliche Deutung zu geben.
Steht er etwa vor einer gotischen Kathedrale ist er hingerissen von der Kühnheit des Entwurfs, der unglaublichen filigranen Verästelung bautechnischer Elemente bis in feinst ziselierte Details, der himmelstürmenden Dynamik der architektonischen Formen, der reichhaltigen Figurenvielfalt und ihrer spirituell aufgeladenen Deutung und der schieren visuellen Überwältigung. Er denkt an das mittelalterliche Ideal, dem Schönes als „Glanz der Wahrheit“ galt und daher gut und nützlich sein musste. Auf dieser Basis kann er sich bei der Kathedrale sicher sein: Ja, das ist Schönheit. So muss sie sein.
Aber was dem mittelalterlichen Baumeister als gut und nützlich galt und Wendler noch immer entzückt, muss Hinz und Kunz keineswegs als ästhetisch anspruchsvoll erscheinen, sondern als protzig, eklektisch oder gar wertlos und eine sinnlose Ressourcenverschwendung. Für eine allgemein gültige Aussage ist das Auge des Betrachters also zu unverlässlich und daher wenig brauchbar, stellt Wendler immer wieder bekümmert fest.
Im Alltag begnügt auch er sich damit, etwas als schön zu empfinden, was ein einfaches sinnliches Wohlgefühl auslöst und einen angenehmen Eindruck hinterlässt. Er ist sich dabei aber bewusst, dass diese Deutung zu unscharfer Verallgemeinerung und diffusen Urteilen neigt. Auch das Wetter, ein Gespräch mit einer Zufallsbekanntschaft, ein Kaffeehausbesuch, eine Reise mit der Eisenbahn, ein frisches, junges Gesicht und sogar ein entspannender Friseurbesuch können anderen als angenehm erscheinen, ohne die höhere Erwartung zu erfüllen, die man bei strengerer Auslegung an den Begriff Schönheit knüpft.
Die Abgrenzung zwischen dem Guten, dem Angenehmen und dem Schönen – und Wendler ergänzt: dem Hübschen – ist ohnehin fließend, wie er Kants „Kritik der Urteilskraft“ entnimmt und findet Trost in der Formulierung des großen Philosophen, mit der er Schönheit als „interesseloses Wohlgefallen“ definiert. Mit dieser so eleganten wie geschmeidigen Beschreibung findet sich Wendler in seiner Welt ohnehin leichter zurecht.
Es ist schwer, das hohe Anspruchsniveau zu halten und daher gestattet sich Wendler, sein Bedürfnis nach Schönheit auch auf niedrigerem Level zu befriedigen. Gerne schaut er jungen Mädchen nach, jenen langbeinigen, schmalhüftigen Gazellen, wie sie in Scharen fröhlich zwitschernd durch die Stadt streifen. Auf Flohmärkten ersteht er das eine oder andere Sammlerstück, das der strenge Ästhetiker vermutlich als himmelschreienden Kitsch verdammen würde. Auch den picksüßen Schlager über eine verschmähte Liebe gönnt er sich gelegentlich, wenn er in einer sentimentalen Stimmung ist. Selbst zu den eigenhändig verfassten etwas pathetischen Liebesgedichten seiner juvenilen Sturm-und Drangzeit steht er nach wie vor. Einige davon hat er in der ersten Aufwallung seiner Gefühle auch Greta gewidmet.
Es hat viel Überzeugungsarbeit an seinem Selbstbewusstsein bedurft, um die Vielschichtigkeit des Schönen zu erkennen und seine kleine Schwester, das weniger Ansehnliche, die „perfekte Imperfektion“ daneben akzeptieren zu können. Mit Nachdruck weist Wendler heute das grausame Urteil Hermann Brochs zurück, der den Liebhaber und Produzenten des Unvollkommenen nach den Maßstäben des Ästhetischen einen ethisch Verworfenen, gar einen Verbrecher nennt, ohne zugleich zu insinuieren, dass jeder eigentlich ein Künstler sei, wie Joseph Beuys postulierte und aller Welt wortreich glauben machen wollte.
Hat nicht gerade die Moderne dieses Prinzip der reizvollen Unvollkommenheit zu einem Gestaltungsprinzip erhoben, um der „Tyrannei des Schönen“ zu entkommen? Das „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch fällt ihm ein, oder die hässlichen, von sozialer Deklassierung zeugenden Figuren von Otto Dix. Und auch Picassos Akte der kubistischen Periode entsprechen nicht gerade gängigem weiblichem Schönheitsideal.
Die perfekten Einheitsgesichter und –körper der Models in der Werbung, die glatte Ästhetik hochpreisiger Designerlofts, die gedrechselten Wortkaskaden hipper Modeliteraten und medialer Selbstdarsteller, die makellosen Hochglanzfotos in sauteuren Magazinen, die kalte seelenlose Schönheit und all der superschicke, auf maximale Wirkung bedachte Kram, der die Sinne mit elitärem Mainstreamchic zukleistert, langweilen Wendler. Wie aufregend ist dagegen das Gesicht der alten Bergbäuerin, der Wendler bei einer Wanderung in den Tiroler Bergen begegnet ist, das Geschichten erzählt, die vom wirklichen Leben handeln oder die Wohnung einer alten Freundin Gretas, die einer gemütlichen, mit „Erinnerungskitsch“ vollgeräumten Höhle ähnelt und in der man sich wie nirgends sonst wohlfühlen kann.
Und Greta selbst, seine geliebte Gefährtin, könnte zwar für kein Modemagazin posieren und bei keiner Misswahl reüssieren, doch für Wendler ist sie die anmutigste Frau, weil die Schönheit ihres Charakters, der Liebreiz ihres Wesens, ihre Intelligenz und die warmherzige Zuneigung zu ihm alles Oberflächliche und Äußerliche überstrahlen.
Wendler hat begriffen, woran wahre Schönheit erkennbar ist. Aus der in den Keller verbannten Kiste mit dem Nachlass seiner Eltern sucht er die zwei Keramikchinesen heraus, billige Retroware der 60er Jahre, die ihnen lieb gewesen waren und die er einst als schlimmen Kitsch gebrandmarkt und in die Kiste verbannt hat, staubt sie sorgfältig ab und stellt sie in sein Bücherregal, wo sie nun neben Goethe, Shakespeare, Stifter und Canetti einen ehrenvollen Platz einnehmen.
Text & Foto: Udo Fellner